Leben machen – Teil 21, Grenzübertritte

[Janne]
Es fühlt sich falsch an. Nach illegalem Drogenhandel, Fakeseiten-Moloch und Betrugsgefahr. Ich scanne meine beiden blauen Rezepte ein und sende sie per E-Mail ins Ausland. Zweimal lade ich sie sogar direkt über einen Uploadlink, wer weiß wohin.
Wahrscheinlich macht Frau Baum, meine Apothekerin, genau das Gleiche, wenn sie meine Asthma- und Allergiemedikation für mich bestellt. Auslandbestellungen für Medikamente sind nichts Besonderes.
Für mich aber schon. Ich finde das alles komisch. Der ganze Ablauf ist mir suspekt. Und als die große, kühle Kiste bei mir zu Hause ankommt und ihr Inhalt wie ein Schatz wirkt, weil ihr Inneres mit silbern reflektierender Folie ausgekleidet ist, komme ich völlig aus dem Konzept.

Es sind 11 Schachteln. Einige groß, manche kleiner. Es sind sehr viele Einmalspritzen dabei, die meisten werde ich gar nicht verwenden. Ich lerne das Konzept des Injektionspens kennen und ziehe die Nase raus, als hielte ich einen verotteten Fisch in der Hand. Ein dicker Kunststoffmantel, der eine Feder zum Aufziehen der Injektionslösung im Inneren hat. Die sehr kurze Nadel ist doppelt in Kunststoff verpackt und muss aufgeschraubt werden. Umständlich und unpraktisch erscheint mir das. Ich verstehe den Aufstand nicht, habe außer der französischen Beipackzettellage aber auch nichts zum Nachlesen. Und dann ist es mir letztlich auch egal. Vielleicht haben wir genau dafür, für Protzpens und Massenmüll, einfach bezahlt. Vielleicht ist das so ein edles Spezialzeug, bei dem alles darunter schäbig wäre.

Meine Freundin ist zu Besuch, als die Lieferung eintrifft. Ohne ihre Hilfe hätte ich den Abgleich mit dem Rezept nicht geschafft. Die Namen der Medikamente sind unterschiedlich, bei einem auch die Dosierung. Wir brauchen 20 Minuten, um zu bestätigen, dass alles vom Rezept auch da ist. In der Ortsapotheke hätte mir dafür jemand böse Blicke zugeworfen.

Am nächsten Morgen ist der dritte Tag meiner vielleicht letzten Blutung in diesem Jahr. Wir fahren in die Klinik für eine Blut- und Ultraschalluntersuchung.
Während mein Mann den Spritzplan für die nächsten Tage studiert, betrachten meine Ärztin und ich meinen abblutenden Uterus und zählen im Anschluss die kleinen Pünktchen, aus denen eventuell Follikel reifen könnten. „4 bis 5“ schreibt sie auf.

Wir verlassen die Klinik mit einem neuen dicken Stapel voller Aufklärungs- und Erklärungszettel. Am Abend setze ich mir die ersten beiden Spritzen im Waschraum neben dem Zeltplatz des Festivalgeländes, auf dem ich die nächsten drei Tage unterwegs bin. Ich sammle meinen Müll im Zelt, um mein Handeln privat zu halten. Beim Abbau aber entscheide ich, doch nur die Spritzen aufzuheben.
Diese kleinen Plastikinjektile markieren mir einen Grenzübertritt.
Einen Meilenstein.
Es ist ein absurdes Müllmonument. Fragment einer Materialschlacht, die egoistischer kaum motiviert sein kann. Wie meine Schwangerschafts- und Ovulationstests. Die alle längst mit Feuer zu CO₂ recycelt worden sind und keinerlei Funktion als Wegpunkt auf dieser Kinderwunschreise mehr haben können. Und mich auch nie penetriert haben, wie diese Spritzen. Bisher hatte meine Kinderwunschbehandlung immer einen gewissen Abstand von meinem Alltag. Der ist jetzt übertreten und es ist mir wichtig, diesen Schritt sehr bewusst zu haben. Vor allem als klar wird, dass mein Mann unseren einzigen gemeinsamen Urlaub in diesem Jahr mit Arbeit und unverschiebbaren Terminen voll hat und schon zwei Wochen vorher erwähnt, wie unangenehm ihm ist, auf Kommando ejakulieren zu müssen. Wir haben beide mit Grenzübertritten zu tun. Aber meiner hinterlässt Zeugen aus Kunststoff.

Leben machen – Teil 20, Alter

[Janne]
„Mit 40 setzt man auch keine Kinder mehr in die Welt.“ An diesen Instagram-Kommentar denke ich, als ich die Kostenübernahmeerklärung für eine individuelle Gesundheitsleistung lese. Die Leistung: die Kryokonservierung von Eizellen bzw. Embryonen. Für ein Jahr, es sei denn, ich werde vor Ablauf des Jahres 45.
Meine Eizellen und meine Chancen auf Kinder werden dann vernichtet. Meine Unterschrift darunter soll mein Einverständnis symbolisieren. Ein Einverständnis, das ich nicht habe.

Mein Mann und ich möchten nicht, dass unsere Embryonen, so welche entstehen und nach Ende unserer Familienplanung übrig bleiben, als medizinischer Gewebemüll in einen Ofen kommen. Wir werden uns entsprechend beim Netzwerk Embryonenspende e. V. melden und sie zur „Adoption“ freigeben. Unsere Chance soll, wenn nicht für uns, dann wenigstens für andere mit noch viel schwierigerer Ausgangssituation bestehen bleiben.

Die Frage, die davon unbeantwortet bleibt, ist: Wann?
Ich wünsche und plane, seit ich 21 Jahre alt bin. Ich war damals eine unerkannt autistische Person mit komplexen Baustellen im Leben. Der Kinderwunsch gab mir eine sehr klare Struktur vor, was ich wie dringend hinkriegen muss, um verantwortungsvoll Elter zu werden. Daran habe ich meine gesamte Lebensgestaltung orientiert und meine Arbeit an mir ausgerichtet.
Erst mit Anfang 30 treffe ich meinen Mann und habe sowohl beruflich als auch in mir selbst alles geordnet. Er weiß von meinem Kinderwunsch, doch schiebt das Thema weg. Wir haben uns ja gerade erst kennengelernt. Als ich ihm sage, dass ich gehen muss, wenn er nicht an Bord ist, wird klar: Das Wegschieben hatte auch andere Gründe als das junge Beziehungsgeflecht. Er braucht Zeit.
Dann kommt Corona. Daran stirbt er mir fast weg. Als er nach Genesung und innerer Arbeit mit sich bereit ist, bin ich 36. Wir erfahren zwei Monate vor meinem 37. Geburtstag, dass es bei ihm Probleme gibt.
Jetzt, wo die Hormone des kurzen IVF-Schemas in mir wirken, bin ich 38 und frage mich, ob ich mir nicht lieber gleich zwei Embryonen einsetzen lassen sollte, um direkt eine Chance auf zwei Kinder zu haben. Dann wird alles scheiße, weil kein*e Zwillingsschwangere*r in Ruhe gelassen wird, aber ich habe die mindestens zwei Kinder, die ich mir im Leben wünsche. Und keinen Zeitdruck mehr, meine Familienplanung zu beenden, damit niemand mit ansehen muss, wie ich als olle 60-Jährige*r meinen 20-jährigen Kindern beim Umzug helfe, durch Liebeskummer tröste oder was weiß ich was für sie mache, weil ich ihr Elter bin.

Ja, biologisch wird es hart mit Mitte 40, weiß ich alles. Vielleicht habe ich auch keine Lust mehr, in dem Alter noch schwanger zu werden.
Aber was, wenn doch? Was, wenn ich dann einfach noch nicht fertig bin? Wenn ich statt einem doch lieber, zwei, drei, vier, fünf Kinder im Leben haben möchte? Wenn ich so über meinen Körper entscheiden möchte und nicht so, wie die medizinischen Strukturen und vielleicht auch Gesetzgeber das gerne möchten? Was steckt hinter dieser herablassenden und abwertenden Haltung gegenüber „alten Eltern“? Ist es allein die misogyne Bewertung von Frauen, deren Wert allein in ihrer Jugend und Potenz liegt? Oder ist es nicht auch der Ableismus in Bezug auf alte Menschen generell, der Ageismus? Weil man annimmt, es sei einfach etwas anderes, wenn man als 40-Jährige*r auf der Spielplatzbank rumhockt, zwischen Kita und Arbeit hin- und herhetzt, sich kümmert, sich sorgt, sich bemüht, sich anstrengt. Was genau aber dieses „andere“ sein soll, das kann man nur ableistisch begründen, will man nicht anerkennen, dass einander zu helfen und füreinander da zu sein für Menschen jeden Alters existenziell wichtig ist. Und darum geht es am Ende doch. Die Verweigerung von Miteinander füreinander.

Ich wäre mit 21 vielleicht auch gut mit einem Kind klargekommen. Ich bin aber mit mir nicht klargekommen. Keins der Kinder, die ich mit Anfang, Mitte, Ende 20 bekommen hätte, hätte viel von mir gehabt. Ich hatte keine Freund*innen, keine Familie, keine Arbeit. Nur ständige Existenzangst und Druck vom Jobcenter, nur abgewechselt von irgendwelchen Leuten im Netz, die ihre sozialen Normen als globale Wahrheiten predigen.
Die Leute, die sich heute hinstellen und behaupten, mit 40, spätestens 45, hätte ich mein Recht auf Erfüllung meines Kinderwunsches umfassend verloren, hätten mir in meinen 20ern das Leben auch so mitgestalten können, dass ich früher dran hätte sein können. Haben sie aber nicht. Sie haben es mir damals zur Hölle gemacht und sie machen es bis heute. Damit muss ich nicht einverstanden sein. Ich muss ihnen nicht zustimmen, nur weil Strukturen und die ableistische heteronormative cis Volksnorm das von mir so möchten.

So unterschreibe ich diesen Zettel also unfrei und nicht selbstbestimmt. Lebe ab sofort mit noch mehr Angst um meinen Mann und sein vorzeitiges Ableben, denn auch dann werden die konservierten Zellen vernichtet. Zum Schutz aller Parteien, unabhängig von den Unfreiheiten, die sich daraus ergeben.
Im Hinblick auf die Kosten, die uns im Zuge des gesamten Verfahrens entstehen, erlebe ich das als Fortführung der gleichen Ungerechtigkeit, mit der ich schon vorher konfrontiert war.
Es hört einfach nicht auf. Egal, wie alt ich bin.

Leben machen – Teil 18, die Vorstellung der Anderen

[Janne]
Pastelltöne, Zeitlupe, sanfte Klänge, fast Stille. Wärme. Körperkontakt. Babygeruch. Flusige Haare. Weiche Haut. Ein ewiger Moment ohne jeden Kontakt zur Realität.
Das ist meine Idee von der Vorstellung, die andere Menschen über meine Kinderwünschigkeit haben. Nur das Baby und ich. Ein Baby, das nie weint, nie schreit, nie Probleme hat. Ich die*r immer wach und verliebt ist. Schwangerschaft und Geburt mit Schmetterlingen und zarten Blümchen, alles rein und weich und leicht. Meine monatliche Blutung als böses Erwachen aus einem schönen Traum. Die knallharte Realität, mit der sich alle anderen Leute befassen müssen, während ich mich ins Baby-Traumland verkrieche und zunehmend weniger damit befasst bin, was (in Wahrheit) doch viel wichtiger wäre.

Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass diese Vorstellung eine misogyne und ableistische Erzählung ist. Dass sie nicht nur einen Wunsch abwerten, sondern auch noch zur Gefahr machen.
Und das überwiegend, weil sie selbst keinen Kinderwunsch haben oder keine Person sind, die schwanger werden kann (oder war) und dies zur Bedingung für empathisches Zuhören oder Beistehen machen. Mir erscheint das ineffizient und im Hinblick auf die gegenseitige Abhängigkeit, wenn es ums Leben machen geht, unlogisch.

Und es macht mich wütend.
Die meisten Personen, mit denen ich über meinen oder ihren Kinderwunsch spreche, sprechen mit mir nie über Realitätsfernes. Wir sitzen nie bei Kaffee und Kuchen und steigern uns in Ideen darüber rein, wie es ist, ein Kind zu haben. Wie wir spielen und schmusen, was wir für feine Breichen kochen und wie süß die Sachen sein werden, in die wir es kleiden. Nie.
Wir telefonieren nach schwierigen Terminen und geben einander den Mut zu Untersuchungen, die uns weh tun werden. Wir hören einander beim Weinen zu, wenn wir bluten, den Eisprung verpasst haben oder erfahren, dass wir die nächste spezielle Untersuchung selbst bezahlen müssen und wieder einen Tag an Überweisungszettel, Rezept- und/oder Medikamentenbeschaffung verloren haben.
Wir gleichen unsere Informationen über Dinge ab, von denen wir hier und da und dort hören und lesen. Wir prüfen Medikamentenpreise und Onlineapotheken. Checken die Komponenten unserer Nahrungsergänzung. Vergleichen die verschiedenen Heimtests auf Tauglichkeit und Preis-Leistungsverhältnis. Wir untersuchen unsere Körper und lernen sie bis zur Zellebene runter kennen.
Wir arbeiten.

Ich habe meinen Kinderwunsch nun seit über 17 Jahren.
Ich habe eine Liste aller Kliniken, die ihre Kaiserschnittraten angeben und gemäß der Richtlinie arbeiten. Eine Liste aller Hebammen und Geburtshäuser im Umkreis von 50 Kilometern. Mein Geburtsplan ist ein Ordner, den ich erst dann irgendjemandem gebe, wenn ich sämtliche Einwilligungserklärungen in Besitz habe und entsprechend unterzeichnet oder nicht unterzeichnet habe. Das letzte Blatt in diesem Ordner ist eine Liste mit Anwält*innen, die sich auf medizinische Fehlbehandlung spezialisiert haben.
Ich weiß, welche Art Geburtsvorbereitung und Nachbereitung es gibt und welche ich möchte. Ich weiß, welche Arzttermine und Untersuchungen wann in der Schwangerschaft bei wem wie nötig sind. Ich habe eine Timeline dafür erstellt, die ich ab meinem ersten positiven Test nur noch abarbeiten muss.
Meine Fähigkeit, mich intensiv und lange auf etwas fokussieren zu können, hat dabei enorm geholfen. „Komplett irre in den Kinderwunsch reingesteigert“ habe ich mich damit nicht. Im Gegenteil. Diese aktive Auseinandersetzung hat meinen Blick auf Schwangerschaft und Geburt, aber auch auf die Wahrscheinlichkeit, währenddessen angemessen und gut begleitet, unterstützt und versorgt zu werden, extrem realistisch werden lassen.
Gleiches ist im letzten halben Jahr mit meinem Blick auf die medizinische Kinderwunschbehandlung passiert.

Alte weiße cis Männer wie mein Ehemann wehren meine Conclusio dennoch ab. Ich sage, dass ich mich damit befasst habe, er denkt, ich hätte 10 Minuten gegoogelt. Ich überlasse ihm wie von ihm gewünscht die Aufgabe, Termine zu beschaffen — er weiß weder wozu der Termin relevant ist, noch macht er den Termin sofort aus. Die Abkürzungen IUI, IVF, ICSI — er weiß nicht, was das ist und noch weniger, mit welchen Risiken, Belastungen für mich und Kosten und Zeitbedarfen für uns beide das jeweils verbunden ist. Die Broschüre dazu liegt seit Monaten auf dem Tisch, an dem er jeden Tag mehrfach vorbeigeht.
Dass ich darüber wütend (und enttäuscht bin) erklärt er sich damit, dass ich halt gerne mit einem Baby spielen möchte und meinen Wunsch nicht sofort erfüllt bekomme.
Als wäre ich das Baby.
Das nicht rafft, dass man nicht immer alles sofort haben kann.

Meine inzwischen schwangere kinderwünschige Freundin sagte neulich, sie wisse auch nicht warum, aber irgendwie bräuchten Männer offenbar immer einen Tritt in den Arsch.
Grundsätzlich mag ich nicht so über cis Männer denken. Überhaupt will ich niemals jemanden treten müssen, damit er sich nicht ignorant verhält und denkt, das ginge klar. Aber: Ich kenne kein Elter, das geboren hat, keine Mutter, die ihren cis Mann nicht (immer wieder) richtig zusammenscheißen musste, damit er endlich aufhört, so zu tun, als würde es nur ums Kuscheln und Heititei gehen. Damit Verantwortung vollständig und nicht nur anteilig übernommen wird. Damit die tägliche mentale Leistung, die jeweder Organisation, Aufklärung, Vor- und Nachbereitung von praktisch allem, was mit dem Kind(erwunsch) zu tun hat, als Arbeit gesehen wird, die eingebettet in die gemeinsame Realität geleistet wird.

Meine intensive Vorbereitung wird mich in Teilen davor bewahren, unsicher zu sein und auf meinen Mann angewiesen zu sein.
Ich kann ihm meine Bücher geben, die Studien zeigen, die Webseiten zugänglich machen, ihn einladen, ihm alles zu erklären.
Die Grenze ist jedoch er selbst. Die Bereitschaft, seine Idee über meinen Kinderwunsch zu berichtigen, die muss von ihm kommen.
Er muss begreifen, dass er sich nicht für „seine Ruhe haben“ oder dafür, dass er „wirklich ein guter Kerl ist“, damit befassen muss, sondern dafür, dass er tatsächlich mit mir in Kontakt, Verbundenheit, Miteinander ist.

Das akzeptieren zu müssen, macht mich wütend und erfüllt mich starkem Ohnmachtsgefühl. Aber diese Notwendigkeit ist nicht neu für mich.
Über mein autistisches Leben und Sein gibt es exakt die gleiche Grenze. Ich bin inzwischen gut darin trainiert auszuhalten, dass andere Menschen teilweise extrem schlimm ableistische Vorstellungen über mein Leben und mich haben. Manchmal selbst dann, wenn ich direkt vor ihnen sitze und überhaupt nichts davon bestätige. Auch diese Menschen haben einfach die Möglichkeit, sich eben nicht zu befassen. Ihre oftmals sogar unbewusste Vorstellung gefällt ihnen einfach besser. Passt manchen von ihnen auch einfach besser ins allgemeine Selbst- und Weltbild.
Und sie wissen nicht, was sie sich selbst, aber auch mir dadurch verwehren. Unsere Gesellschaft ist okay damit, dass autistische Menschen „in ihrer eigenen Welt leben“.

In Bezug auf meinen Mann und mich ist das anders.
Über Ehe, Familie, Liebesbeziehungen gibt es bereits andere Vorstellungen. Verbindung und Miteinander sind darin zentrale Bausteine.
Und darauf vertraue ich letztlich.
Dass wir diese Vorstellung voneinander beide gleich haben und auch erfüllen wollen.

Leben machen – Teil 16, Überraschung

[Janne]
Um 8 war der Termin in der Klinik.
Zyklusmonitoring, Teil 2. Blut, Ultraschall und eine neue Ärztin.
Darauf war ich vorbereitet. Wusste, dass ich kurz vor 5 dafür aufstehen und duschen musste und knapp 2 Stunden mit meinem Auto, dem Zug und der Straßenbahn unterwegs sein würde. Nüchtern.

Diesen Routinenbruch habe ich in der letzten Woche bereits geübt. Mir hilft es, wenn ich unübliche Abläufe in ihrer Unüblichkeit vorher dadurch abflache, dass schon die Tage vorher unüblich laufen, aber von mir selbst so geplant. Ich habe mir den Wecker anders gestellt als sonst. Habe die Reihenfolge der Morgenroutine verändert und den Tag nach der Untersuchung nicht mit Arbeit strukturiert, sondern mit Tätigkeiten, von denen ich weiß, dass sie wenig von mir fordern und mir im Allgemeinen guttun. Wenn ich mich gut gefühlt hätte, hätte ich arbeiten können.

Mein Körpergefühl ist manchmal nicht vorhersehbar für mich. Es könnte sein, dass ich von meiner Nüchternheit nichts spüre – es könnte aber auch sein, dass ich ausschließlich das spüre und dann nichts anderes mehr kann.
Früher hatte ich deshalb für solche Nüchtern-Termine eine Assistenzperson an der Seite. Wenn ich nur noch Schwindel, Magenschmerz und Zittrigkeit spüren kann, bekomme ich Angst und die dreht das ganze Sensorik-Drama noch eine Stufe rauf. Der Overload kommt dann schnell und mit ihm die Regression. Ich kann mich nicht mehr orientieren, kriege selbst gewohnte Abläufe nicht mehr in die richtige Reihenfolge. Um Hilfe bitten funktioniert dann auch nicht mehr – ich kann dann nicht mehr sprechen.
Inzwischen habe ich so eine Assistenz nicht mehr. Ich brauche sie einfach zu selten. Die Erwartung ist implizit, dass mir mein Mann die Unterstützung gibt. Ob ich das möchte oder wie er diese Leistung mit seinen Arbeitszeiten verbinden soll, wird so zu unserem Problem.

Ich muss da also allein durch. In meiner Tasche, meinem Rucksack und meinem Geldbeutel ist in der Hülle von meinem Personalausweis und meinem Schwerbehindertenausweis ein Zettel mit Informationen für Ersthelfer*innen. Sollte ich dekompensieren, lande ich mit Glück gar nicht erst im Krankenhaus, sondern in irgendeiner ruhigen Ecke bis mein Mann oder ein Taxi für mich kommt.

An diesem Tag habe ich erst etwas von der Nüchternheit gespürt, als ich die Veränderung in meinem Uterus sah und warten musste, bis die Ärztin etwas dazu sagte. „Sehen Sie das da? Das ist ein Polyp.“ Sie rührte ein weiteres Mal mit dem Gerät in meinem Körper herum. „Damit werden sie nicht schwanger.“
Und dann zeigte sie mir meinen wunderschönen Riesenfollikel. Meine toll aufgebaute Schleimhaut. Wie alles super ist. Außer dass da etwas gewachsen ist, das eine Einnistung sehr erschweren kann.

Weil ich so weit weg wohne, hat mich die Ärztin in ihren Plan gequetscht.
Ich solle erst einmal etwas essen und trinken und in einer Stunde wiederkommen.
Dass die Ärztin mich über eine Operation aufklären wollte und ich dafür wiederkommen sollte, habe ich erst dann gemerkt, als sie es knapp zwei Stunden später tat. Mit einem Termin Ende Februar und vielen Zetteln voller Text und Fragen.
Ich muss entscheiden, ob ich nur den Polypen entfernen oder bei der Gelegenheit auch gleich alles untersuchen und biopsieren lasse, was geht. Eileiterprüfung, Killer- und Plasmazellen, Endometriose. Wir verlieren eh einen Zyklus, wie viel Erkenntnis will ich im Gegenzug dafür? So erscheint mir diese Entscheidung.
Ich habe alles unterschrieben und über nichts davon nachgedacht.

Bei mir war noch nie ein Polyp oder Ähnliches gewachsen. Es war immer alles in Ordnung. Aus dem erwarteten Ultraschall-Ergebnis ist ein unerwartetes geworden.
Das verarbeitend saß ich dann im Zug nach Hause, immer die Uhr im Blick, denn ich sollte noch einmal wegen der Blutergebnisse anrufen.
Am Bahnhof stellte ich mich in die Sonne, um dem Besetztzeichen zuzuhören. Mir war nicht mehr wirklich klar, was sie mir über mein Blut jetzt noch Relevantes mitteilen könnten. Wenn ich „damit nicht schwanger werde“, dann kann mir mein LH-Wert, der Wert zur Bestimmung des Eisprungs, ja auch völlig egal sein.
Tatsächlich ist der LH-Wert super zum Leben machen – mein Langzeit-Blutzuckerwert ist es hingegen weiterhin nicht. Der war vor einem halben Jahr, einer Ernährungsumstellung und 15 Kilo mehr schon erhöht. Das also auch noch.
Ein neuer Arzt. Ein weiterer Routinenbruch. Neue Herausforderungen.

Ich habe an dem Tag nicht mehr gearbeitet. Ich war dumpf mit dem Hund draußen. Habe mit Freund*innen telefoniert und meine*n Hebammenfreund*in kontaktiert. Meinem Mann alles erzählt und mich besser gefühlt, als er mich getröstet und ermutigt hat.
Ich muss noch herausfinden, was mich im Moment mehr belastet – die Überraschung oder das neue Wissen oder die Aussicht auf ein weiteres schwieriges Gesundheitsthema.
Oder dass es sehr wahrscheinlich wieder nichts wird.

Leben machen – Teil 15, Ablenkung

[Janne]
Heiligabend saß ich auf der Couch und raunzte meinen Mann an, er müsse auch mal akzeptieren, dass er mich nicht ablenken kann. Auch nicht mit schönen Dingen an schönen Tagen.
Ich war wieder nicht schwanger, mein Zyklus hatte 25 Tage. Das war unvorhersehbar und entsprechend unerwartet. Morgens hatte ich bereits negativ getestet und zwanzig Minuten geweint. 3 Stunden später setzte die Blutung ein, als würde meine Gebärmutter mitweinen.

Nach der ersten Trauer baute sich die nächste Welle auf. Das Zyklusmonitoring. Auch das würde damit nicht passend beginnen können. Zyklustag 3 bis 5 waren Feiertage bzw. Wochenende und die Klinik bis Neujahr zu. Der nächste Zyklus vertan, der nächste Monat doomed.
Für mich war das wie eine Dominokette into darkness. Die nächste Herausforderung, das nächste Warten, das nicht abgekürzt werden kann. Der nächste Moment, in dem der bis heute ungelinderte Frust über die Wartezeit, die ich schon vor dem aktiven Lebenmachen hatte. Die 3 Jahre, die ich auf meinen Mann gewartet habe, bis er endlich bereit war. Und dann noch das eine Jahr, das wir wegen der Pandemie gewartet haben.

Ich weiß, dass langem Warten nicht zwangsläufig das schnelle, große Glück folgt. Aber schön wärs und gerne hätt ichs.

Mit meinem Wartefrust habe ich meinen Mann noch nie konfrontiert. Von meiner Sorge, es könnten diese 3 Jahre gewesen sein, die die letzten waren, in denen es für mich überhaupt noch möglich war, ohne großes Tracking, Messen und Umstellen von irgendwas im üblichen Zeitrahmen schwanger zu werden, will ich ihn fernhalten.

Ich will ihm keine Schuld geben, aber der Grund fürs Warten war nun einmal etwas, das bei ihm lag und nicht bei mir. Wir hätten schon ein Kind haben können, als COVID-19 ausbrach, und das macht mich traurig. Und wütend. Und frustet so sehr.
Andererseits war es für viele Menschen mit Kleinkindern in der Pandemie und auch noch direkt danach richtig scheiße. Wer weiß. Hätte würde wenn, hättste könnste wennste – egal. Es ist jetzt, wie es ist. Aber ein Fan muss ich deshalb nicht davon sein.

Die Selbstregulierung in solchen Momenten ist schwierig für mich.
Es fällt mir schwerer als sonst, Audio zu verstehen – in solchen Momenten von hoher Erregung ist es für mich, als würden Menschen sehr lange Worte sagen, die ich nicht kenne. Und selbst wenn ich die Wörter verstehe, dann ist meine Übersetzungsfähigkeit für ihren Sinn im Kontext der Grammatik und des Gesprächs selbst massiv eingeschränkt. Man kann nicht gut mit mir reden in diesem Zustand. Gebärden, schriftlicher Chat, konkretes Zeigen (Vormachen) funktionieren besser.
Mein Mann vergisst das manchmal. Für ihn ist das keine intuitive Lösung.
Und so erfuhr ich ein Liebesbombardement der Ablenkung an dem Tag. Vielleicht, vermutlich, einigermaßen wahrscheinlich auch, weil er das brauchte.

Ich hingegen brauchte das nicht. Ich brauchte einen neuen Plan. Und Trost. Einen Spiegel für meine Trauer und Enttäuschung. Verständnis und Bedauern über den Umstand, dass wir nicht nur einen, sondern zwei Zyklen verlieren. Denn das ist ja auch Teil des Zyklusmonitorings – da passiert keine Behandlung, nur Beobachtung und direkt danach wird ja (wenn überhaupt) auch keine IVF passieren, sondern dessen Vorbereitung.

So ist es insgesamt ein Vierteljahr, das wieder einfach so vergeht. 3 Mal zweifelhaftes Supplementezeug kaufen, 3 Monate Ovulationstests, Schwangerschaftstests, 3 Monate kein Doping mit Cola (was für manche vielleicht lächerlich klingt, aber für mich mit meinem Workload wirklich das ist, was mir eine pünktliche Abgabe oder Tage mit vielen Besprechungen ermöglicht). 3 Monate, in denen jeder Monat eine Woche Warten auf den Eisprung, 2 Wochen Warten auf einen Test und eine Woche Trauer, mit der niemand groß belastet oder konfrontiert werden soll, bedeutet.

Das ist ein Vierteljahr, das natürlich auch noch viele andere Dinge innehaben wird – es werden sicher auch tolle Dinge passieren. Aber mein Kinderwunsch ist jeden Tag da und jeden Tag tue ich etwas, um ihn zu erfüllen bzw. wahrscheinlicher zu machen, weil ich das muss. Tue ich das nicht, wird es nichts. Ein „Ach scheiß drauf, jetzt mache ich mal was anderes“, kann einfach alles ruinieren, was ich vorher aufgebaut habe. Also scheiße ich nie drauf. Lasse mich nie ablenken. Bleibe immer dran und halte die Disziplin aufrecht.
Wahrscheinlich hilft mir mein autistisches Gehirn dabei sehr. Dennoch geht es dabei nicht nur darum, wie mein Gehirn funktioniert, sondern auch darum, dass ich mich dafür entschieden habe.

Wenn mein Mann mich ablenken will, dann ist das für mich, als wolle er mich umstimmen. Als wolle er auf ein Mal nicht mehr. Was für mich der absolute Super-GAU wäre. Entsprechend scharf werde ich in solchen Momenten.
Mir ist egal, wie sein Umgang mit der Enttäuschung ist. Er kann sich gerne ablenken und die Trauer vermeiden. Ich möchte nicht die Kraft aufbringen, sie zu vermeiden. Ich brauche sie für andere Dinge.

Leben machen – Teil 10, wie sich Jannes Kinderwunsch anfühlt

[Janne]
Überraschend intim wurde der Moment, in dem mich jemand fragte: Wie fühlt sich der Kinderwunsch an?

„Wie Hunger“, antwortete ich.
„Wie Hunger, der nichts mit Lust zu tun hat“, dachte ich beschämt.

Die Person wollte wissen, ob die Konsequenzen dieses Wunsches denn so gar keine Rolle spielen. Ob denn da gar keine Angst ist. Und ich fand einen Weg, es zu beschreiben, ohne die Dringlichkeit, die Gier, die manchmal umwerfend krasse Unbedingtheit meiner Kinderwunschgefühle zu benennen.
Das habe ich inzwischen eingeübt, denn viele Menschen haben schlicht Angst vorm Kinderhaben. Der Verantwortung, dem Anspruch. Und Angst ist ein gnadenloser Empathiekiller. Ich möchte nicht, dass Menschen vor lauter eigener Angst kein Mitgefühl mehr für mich aufbringen. Egal, ob ich kinderwünschig oder mit Kindern lebend bin.

Mein Kinderwunsch fühlt sich manchmal an wie eine Blasenentzündung. Ich muss immer, aber es tut sich nichts. Und wenn doch – und sei es nur hypothetisch in den zwei Wochen Hibbelei – tut es weh, weil es nicht einfach so läuft.

Ich erlebe meinen Kinderwunsch als zutiefst innerlich und damit fernab von der Rationalität, die für Angst erforderlich ist.
Ich fühle da einen Drang, einen Trieb, der von etwas ausgeht, das in mir angelegt ist wie meine Augenfarbe, meine Körperstruktur, meine allgemeine Verdrahtung.
Das hat nichts damit zu tun, ob mich die Gesellschaft drängt und treibt. Als behinderte Person ist das vermutlich ohnehin das Letzte, was ich zu erwarten habe.

Ich glaube nicht an biologische Uhren und auch nicht an Kinder als das, was ein Menschenleben erst komplett macht.
Aber ich glaube an das Leben.
Ohne den Fortpflanzungstrieb gäbe es den Menschen schon lange nicht mehr und doch haben Menschen es geschafft, Scham darüber zu etablieren. Der Mensch soll dem Trieb nicht unterlegen sein. Er soll ihn beherrschen und kontrollieren. Das Tier mag triebgesteuert funktionieren, aber der Mensch doch nicht. Der kann doch nachdenken und planen. Der kann es doch richtig machen. Wer es nicht richtig macht, ist falsch. Dem Tier sehr nah. Kein richtiger Mensch mehr.

Klingt brutal, ist es auch.
Klingt sehr bewusst, ist es aber oft nicht.
Ableismus ist oft unbewusst. Die Abwertung, die Gewalt dahinter unsichtbar.

Und betrifft alle.
Auch alle, die erst an die Konsequenzen von Kindern denken, bevor sie erfühlen, wie das eigentlich ist, dieses Kinderwünschen. Erst daran zu denken, was alles schiefgehen kann, erst allen Horror durchzudenken und vorwegzunehmen, ist eine Schutzreaktion. Eine Strategie der Angstbewältigung.
Und Angst kann nur da entstehen, wo Sicherheit fehlt.
Ableismus nimmt genau diese Sicherheiten.

Ich hole meine Sicherheitsgefühle nicht aus meiner menschlichen Überlegenheit gegenüber Tieren oder meinen Fähigkeiten. Ich ziehe sie aus dem Wissen, dass das Leben immer ist und wird. Ob in meiner Form oder nicht – total egal. Ich werde gelebt haben und vielleicht auch ein Kind. Mehr ist eigentlich irrelevant. Deshalb ist es ein Trieb und eben nicht nur ein Wunsch, wie wir Menschen das nennen, um uns gegenseitig die Angst zu nehmen.

Leben machen – Teil 9, in dem kein Raum für Hoffnung ist

[Janne]
Ich weiß schon, dass es wieder nicht geklappt hat und versuche mich fernzuhalten von dem „hätte-würde-wenn-aber vielleicht doch“, das mir sonst so viel Trost gibt. Im Moment tröstet es mich nicht.

Im Moment zieht und drückt mein Uterus. Im Moment gibt es viele Erwartungen, denen ich nicht entspreche. Im Moment finde ich Komfort in Nischen, die nur wenige nachvollziehen können. Im Wollregal zum Beispiel. In der Repetition des Häkelns. Des Stickens. In der Stille des künstlichen Rauschens meiner Kopfhörer. Allein. Mit mir.

Meine Alleinigkeit ist so dicht, da ist kein Raum für Hoffnung — aber auch nicht für Trauer. Da ist alles voller Moment und ich genieße das.

Leben machen – Teil 8, in dem es um plötzliche Veränderungen geht

[Janne]
Eisprungzeit.
Für mich dieses Mal etwas aufreibend, denn mein Eisprung hat sich verschoben.
Ich kann dieser Verschiebung wohlwollend begegnen, obwohl ich üblicherweise nicht sonderlich geschmeidig auf Veränderungen reagieren kann.

Man sagt uns Autist*innen ja oft nach, wir seien nicht flexibel und hätten Probleme mit plötzlichen Veränderungen. Ich für meinen Teil habe weniger mit den Veränderungen als ihren Konsequenzen ein Problem.
Denn meine gesamte Leistungsfähigkeit, was das alltägliche Funktionieren und Kompensieren von äußeren Einflüssen angeht, hängt davon ab, dass ich weiß, was los ist. Und ich kann nur wissen, was los ist, wenn ich von vornherein weiß, was los sein wird oder sein könnte.

An kaum einer anderen Stelle kann ich nicht-autistischen Menschen so deutlich machen, dass Autismus einer neurologischen Mechanik folgt und tatsächlich nichts mit meiner Persönlichkeit zu tun hat. Denn auch viele nicht-autistische Menschen werden nicht gern überrascht und werden sehr erschöpft von unsteter Lebensumgebung und unsicheren Bedingungen der Vorgänge um sie herum.
Ich hingegen werde letztlich hilflos, weil ich im Fall einer Plan- oder Ablaufänderung weniger und manchmal auch gar keinen Zugriff auf die Hirnfunktionen habe, die meine Reizaufnahme in irgendeiner Form einordnen, filtern, verarbeiten, integrieren. Ein Mal aus der Orientierung bin ich auf Hilfe angewiesen, die Situation zu verstehen und Prompts zu bekommen, was ich als Nächstes tun muss. Wenn es denn noch so milde ist, dass ich Hilfe von außen überhaupt als solche begreifen kann.

Diese Mechanik ist der empfindlichste Teil meines Autismus und der Hauptgrund dafür, dass ich im analogen Leben niemandem von meinem Kinderwunsch erzähle. Die meisten nicht-autistischen Menschen halten Babys und Kinder für verkörpertes Chaos und mich für nicht in der Lage, darauf angemessen und funktional reagieren zu können.
Ihr Konzept von Plötzlichkeit unterscheidet sich von meinem.
Ich habe noch nie ein Kind erlebt, das sich unvorhersehbar plötzlich verändert. Aber schon viele Menschen, die aus unbenannten und für mich unsichtbaren Beweggründen erst ins Kino und dann lieber doch in die Disco wollten – nachdem man dann doch ganz spontan mal noch durch ein paar Kneipen gezogen ist.
Je enger mein Bezug zum Kontext ist, desto leichter fällt es mir, Veränderungen vorherzusehen und in meine Erwartungen an den Rahmen, in dem sie sich ereignen könnten, einzuweben.

Dass sich der menschliche Eisprung um einige Tage verzögert, ist eine solche Veränderung. Sie hat zwar Konsequenzen für meinen Alltag, aber ich weiß schon, dass das absolut im normalen Rahmen ist und was ich jeweils tun muss.
Derzeit muss ich mal abspannen. Es war einigermaßen aufregend in den letzten beiden Wochen – wie soll denn bei so viel Gerumpel und Getöse auch vernünftig ein Ei aufgefangen, geschweige denn befruchtet und ein Embryo gebaut werden?

Leben machen – Teil 5, in dem es um Hibbelmärchen geht

[Janne]
Viele der Quatschgeschichten rund ums Kindermachen und Gebären nennt man „Ammenmärchen“.
Ich glaube, dass es Hibbelmärchen sind. Geschichten gegen das Zerriebenwerden zwischen Hoffen und Bangen. Storys gegen die Unsicherheit.

Menschen erzählen sich von jeher Geschichten, um ihre Erfahrungen zu teilen und besprechbar zu machen. Menschen lernen so voneinander, dass Innen- und Außensicht miteinander zusammenhängen. Dass alles etwas macht und nichts ohne Bedeutung ist.

Heute sind unsere Möglichkeiten Geschichten zu erzählen andere als früher. Wir erzählen Geschichten nicht mehr nur in der Familie oder dem direkten sozialen Umfluss, in dem wir leben. Wir können unsere Zuhörer*innenschaft in einem Umfang und mit einer Präzision wählen, wie noch nie zuvor.
Doch der Anlass für unsere Hibbelmärchen ist universell. Wir, die kinderwünschigen, schwangeren, bald gebärenden oder bereits geboren habenden Menschen, erzählen alle das Gleiche. Im Kern. Ganz abstrakt betrachtet.

Wir sind konfrontiert mit etwas Unvorhersehbarem, Unplanbarem, bis heute in Teilen noch Geheimnisvollem. Und die einzige Sicherheit, die wir haben ist, genau das: Dass es so ist, schon immer war und in unserem Leben für uns ganz persönlich auch nicht anders sein wird. Höchstwahrscheinlich.
Man weiß einfach nicht, was kommt. Selbst wenn man ganz genau weiß, was kommt.

Ich mag so umfassende Unsicherheiten nicht.
Wie viele autistische Menschen habe ich bereits unzählige Unsicherheiten im Leben. Bin ich bereits von Geheimnissen umgeben, die ich nie lüften werde.
Man kann mich leicht verwirren. Schnell verunsichern. Viele Menschen kennen mich nur im Unklaren darüber, was passiert ist, was gerade passiert und was passieren wird. Meine Wahrnehmung ist so breit und detailorientiert, dass ich auf komplexe Hypothesen und oft genug auch bloßes Drauflosmachen angewiesen bin. Es ist mein Normal keine Ahnung und keine Storys gegen die Unsicherheit zu haben. Mir helfen Geschichten nicht. Ich brauche Eindeutigkeit. Daher bevorzuge ich Datensammlungen und nutze meine Fähigkeit zur Mustererkennung, um die Lage zu analysieren und einzuordnen.

Seit ein paar Tagen träume ich von Schwangerschaft und Diffusität. Und habe noch 6 Tage, bis ich den ersten Test machen kann. Das ist die Hibbelphase. Meine erste mit so einer Häufung von Träumen. Es ist der erste Zyklus, in dem wir nur einen Versuch hatten. Der erste, in dem ich vor dem Eisprung krank war. Der erste, den ich mit einem Ovulationsmonitor getrackt habe. Der erste, in dem wir es morgens versucht haben. Der erste, in dem ich nicht von den letzten Orgasmuswellen in den Schlaf gelullt wurde, sondern den halben Tag darüber nachdachte, wie viele Spermien ich an die Schwerkraft verloren habe.

So vorgetragen ist aber selbst meine Datenanalyse eine Geschichte, oder?
Wäre es nicht toll, würde ich das erzählen können? „Wir haben es so lange versucht und haben anfangs immer gemacht, was wir für das organisatorisch effizienteste gehalten haben. Das hat nie geklappt. Aber dann haben wir umstandsgedrungen gemacht, was ging und das hat funktioniert. Wow!“

Aber würde es anderen helfen? Gut tun? Was machen Erzählungen dieser Art mit kinderwünschigen Menschen, die schon oft ihr Protokoll haben lassen (müssen), ohne, dass es für sie funktioniert hat? Entsteht durch diese Geschichten nicht erst der Wunsch, dass es bei ihnen auch so wird?
Sind unsere Geschichten Hoffnungsdünger voller Wunschsamen? Die großen Blätter unserer Geschichten das, was uns nicht zerfallen lässt, wenn die Realität in ihrer Unerbittlichkeit auf uns einwirkt?

Brauchen wir Hibbelmärchen, um die Unsicherheit zu überleben oder um die Realität zu spüren?

Leben machen – Teil 1, in dem Janne etwas zu sich schreibt

[Janne]
Und wieder ist es eine Linie.
Nur eine.

Vergangenes Jahr habe ich die Tage nach meinem Eisprung noch als halbe Elternschaft gesehen. Das hat mich getröstet, denn wenigstens zur Hälfte, war da ein Stückchen, ein „Zellchen“ Kind in mir drin.
Einige Monate später habe ich gemerkt, dass mir der Gedanke weh tut, ein halbes Zellkind zu gebären und sterben zu lassen. Alle 4 Wochen eine Geburt, alle 4 Wochen ein Tod.

Vielleicht etwas zu mir.
Ich bin eine weiße, nicht-binäre Person. 37 Jahre alt und 18 davon im Kinderwunsch. Vor 7 Jahren wurde ich als autistisch diagnostiziert, vor 6 Jahren Teil einer beständigen Partner*innenschaft.

Diese Beziehung war von vornherein als das soziale Nest hergerichtet, in dem Kinder aufwachsen. Dann kam Angst ins Spiel, dann Corona.
Wir haben an uns gearbeitet. Haben gewartet. Uns getröstet und versprochen, dass aufgeschoben nicht aufgehoben bedeutet.
Jetzt sind wir im 7. Monat kinderwünschig.

Ich möchte hier teilen, was mich in dieser Phase meines Lebens bisher beschäftigt hat. Was ich gelernt habe und verlernen möchte.