Leben machen – Teil 20, Alter

[Janne]
„Mit 40 setzt man auch keine Kinder mehr in die Welt.“ An diesen Instagram-Kommentar denke ich, als ich die Kostenübernahmeerklärung für eine individuelle Gesundheitsleistung lese. Die Leistung: die Kryokonservierung von Eizellen bzw. Embryonen. Für ein Jahr, es sei denn, ich werde vor Ablauf des Jahres 45.
Meine Eizellen und meine Chancen auf Kinder werden dann vernichtet. Meine Unterschrift darunter soll mein Einverständnis symbolisieren. Ein Einverständnis, das ich nicht habe.

Mein Mann und ich möchten nicht, dass unsere Embryonen, so welche entstehen und nach Ende unserer Familienplanung übrig bleiben, als medizinischer Gewebemüll in einen Ofen kommen. Wir werden uns entsprechend beim Netzwerk Embryonenspende e. V. melden und sie zur „Adoption“ freigeben. Unsere Chance soll, wenn nicht für uns, dann wenigstens für andere mit noch viel schwierigerer Ausgangssituation bestehen bleiben.

Die Frage, die davon unbeantwortet bleibt, ist: Wann?
Ich wünsche und plane, seit ich 21 Jahre alt bin. Ich war damals eine unerkannt autistische Person mit komplexen Baustellen im Leben. Der Kinderwunsch gab mir eine sehr klare Struktur vor, was ich wie dringend hinkriegen muss, um verantwortungsvoll Elter zu werden. Daran habe ich meine gesamte Lebensgestaltung orientiert und meine Arbeit an mir ausgerichtet.
Erst mit Anfang 30 treffe ich meinen Mann und habe sowohl beruflich als auch in mir selbst alles geordnet. Er weiß von meinem Kinderwunsch, doch schiebt das Thema weg. Wir haben uns ja gerade erst kennengelernt. Als ich ihm sage, dass ich gehen muss, wenn er nicht an Bord ist, wird klar: Das Wegschieben hatte auch andere Gründe als das junge Beziehungsgeflecht. Er braucht Zeit.
Dann kommt Corona. Daran stirbt er mir fast weg. Als er nach Genesung und innerer Arbeit mit sich bereit ist, bin ich 36. Wir erfahren zwei Monate vor meinem 37. Geburtstag, dass es bei ihm Probleme gibt.
Jetzt, wo die Hormone des kurzen IVF-Schemas in mir wirken, bin ich 38 und frage mich, ob ich mir nicht lieber gleich zwei Embryonen einsetzen lassen sollte, um direkt eine Chance auf zwei Kinder zu haben. Dann wird alles scheiße, weil kein*e Zwillingsschwangere*r in Ruhe gelassen wird, aber ich habe die mindestens zwei Kinder, die ich mir im Leben wünsche. Und keinen Zeitdruck mehr, meine Familienplanung zu beenden, damit niemand mit ansehen muss, wie ich als olle 60-Jährige*r meinen 20-jährigen Kindern beim Umzug helfe, durch Liebeskummer tröste oder was weiß ich was für sie mache, weil ich ihr Elter bin.

Ja, biologisch wird es hart mit Mitte 40, weiß ich alles. Vielleicht habe ich auch keine Lust mehr, in dem Alter noch schwanger zu werden.
Aber was, wenn doch? Was, wenn ich dann einfach noch nicht fertig bin? Wenn ich statt einem doch lieber, zwei, drei, vier, fünf Kinder im Leben haben möchte? Wenn ich so über meinen Körper entscheiden möchte und nicht so, wie die medizinischen Strukturen und vielleicht auch Gesetzgeber das gerne möchten? Was steckt hinter dieser herablassenden und abwertenden Haltung gegenüber „alten Eltern“? Ist es allein die misogyne Bewertung von Frauen, deren Wert allein in ihrer Jugend und Potenz liegt? Oder ist es nicht auch der Ableismus in Bezug auf alte Menschen generell, der Ageismus? Weil man annimmt, es sei einfach etwas anderes, wenn man als 40-Jährige*r auf der Spielplatzbank rumhockt, zwischen Kita und Arbeit hin- und herhetzt, sich kümmert, sich sorgt, sich bemüht, sich anstrengt. Was genau aber dieses „andere“ sein soll, das kann man nur ableistisch begründen, will man nicht anerkennen, dass einander zu helfen und füreinander da zu sein für Menschen jeden Alters existenziell wichtig ist. Und darum geht es am Ende doch. Die Verweigerung von Miteinander füreinander.

Ich wäre mit 21 vielleicht auch gut mit einem Kind klargekommen. Ich bin aber mit mir nicht klargekommen. Keins der Kinder, die ich mit Anfang, Mitte, Ende 20 bekommen hätte, hätte viel von mir gehabt. Ich hatte keine Freund*innen, keine Familie, keine Arbeit. Nur ständige Existenzangst und Druck vom Jobcenter, nur abgewechselt von irgendwelchen Leuten im Netz, die ihre sozialen Normen als globale Wahrheiten predigen.
Die Leute, die sich heute hinstellen und behaupten, mit 40, spätestens 45, hätte ich mein Recht auf Erfüllung meines Kinderwunsches umfassend verloren, hätten mir in meinen 20ern das Leben auch so mitgestalten können, dass ich früher dran hätte sein können. Haben sie aber nicht. Sie haben es mir damals zur Hölle gemacht und sie machen es bis heute. Damit muss ich nicht einverstanden sein. Ich muss ihnen nicht zustimmen, nur weil Strukturen und die ableistische heteronormative cis Volksnorm das von mir so möchten.

So unterschreibe ich diesen Zettel also unfrei und nicht selbstbestimmt. Lebe ab sofort mit noch mehr Angst um meinen Mann und sein vorzeitiges Ableben, denn auch dann werden die konservierten Zellen vernichtet. Zum Schutz aller Parteien, unabhängig von den Unfreiheiten, die sich daraus ergeben.
Im Hinblick auf die Kosten, die uns im Zuge des gesamten Verfahrens entstehen, erlebe ich das als Fortführung der gleichen Ungerechtigkeit, mit der ich schon vorher konfrontiert war.
Es hört einfach nicht auf. Egal, wie alt ich bin.

Zwei Wochen ohne #ADHS-Medikamente

Das neue Jahr habe ich mit einem Experiment begonnen. Für 2 Wochen habe ich keine ADHS-Medikamente genommen und es war eindrücklich, was das mit mir macht.

Zuerst eimal warum das ganze? Ich habe, seit ich 18 bin, mit Migräne zu kämpfen. Seit ich vor ca. 10 Jahren die Pille abgesetzt habe, sind die Anfälle zum Glück nicht mehr ganz so schlimm, aber trotzdem noch sehr unangenehm, und regelmäßig mit mehr als einem Kopfschmerztag pro Woche. Mein alter Neurologe hat mir dann vor ca. 4 Jahren ein neues Medikament aufgeschrieben. Antikörper, die vorbeugend wirken, eine Spritze alle 4 Wochen, die ich mir selber injizieren kann. Und das hat ganz wunderbar funktioniert. Plötzlich hatte ich nur noch 1–2 leichte Anfälle im Quartal, und das ohne Nebenwirkungen. Aus diversen Gründen habe ich dann den Neurologen gewechselt. Dort bekam ich die Antikörper zunächst auch verschrieben, dann sollte ich eine Pause machen und sehen ob es jetzt ohne geht. Die Spritzen sind teuer und die Krankenkasse will das so. Die ersten Monate war es noch kein Problem, dann wurden die Anfälle langsam wieder häufiger und stärker. In diese Zeit fiel auch meine ADHS-Diagnose und ich habe angefangen ADHS-Medikamente zu nehmen.

Da laut meines Neurologen die Stimulanzien Kopfschmerzen und Migräne verursachen oder verschlimmern können, wollte er mir nun keine Antikörper mehr verschreiben. Erst müssten wir sicher sein, dass die Migräne nicht von den Stimulanzien kommt. Ich war mir sehr sicher, dass dies nicht der Fall ist, schließlich war ich schon an diesem Punkt bevor ich überhaupt wusste, dass ich ADHS habe.

Im Dezember hatte ich dann 13 Kopfschmerztage und meine Belastungsgrenze war überschritten. Da habe ich schon nicht mehr jeden Tag meine ADHS-Medikamente genommen. Zum Jahresbeginn habe ich mir dann vorgenommen, die Stimulanzien bis zum nächsten Termin bei meinem Neurologen komplett abzusetzen.

Für mich war das eine sehr emotionale Zeit. Natürlich möchte ich die Migräne in den Griff bekommen, aber wenn das nur ohne ADHS-Medikamente geht, dann wäre das auch nicht gut. Ich möchte gerne halbwegs gut funktionieren, ohne Migräne und mit der Hilfe von Stimulanzien. Mich für ein „Übel“ zu entscheiden, den Gedanken fand ich furchtbar frustrierend!

Aber wie war es nun in den 2 Wochen ohne Stimulanzien? Nach knapp einem Jahr hatte ich mich schon gut an die Wirkung gewöhnt. Manchmal habe ich mich gefragt, ob die Medikamente überhaupt noch wirken. Jetzt weiß ich: Ja!

Plötzlich habe ich wieder Wortfindungsstörungen. In Gesprächen fällt es mir schwer, richtig zuzuhören. Ständig bin ich auf der Suche nach irgendeinem Snack, nach Süßkram (mit Stimulanzien habe ich zum Glück weiter einen normalen Appetit, aber kein Bedürfnis mir ständig etwas in den Mund zu schieben). Viel häufiger als in den letzten Monaten stehe ich vor einem Schrank oder in einem Raum und frage mich, was ich hier eigentlich wollte. Springe von einer Tätigkeit zur nächsten. Hänge wieder viel zu lange am iPad. Im Kopf ist es deutlich lauter. Dinge zu erledigen fällt mir schwer. Entscheidungen zu treffen wird zur Herausforderung. Einfach anfangen auch.  Eigentlich alles wird wieder schwerer, und ich bin ständig unzufrieden mit mir selbst.

„ADHS-Medikamente machen abhängig!“ hört man ja auch immer wieder. Und das mag für neurotypische Menschen stimmen – nicht umsonst fallen ADHS-Medikamente unters Betäubungsmittel-Gesetz. Ich hingegen vergesse immer mal wieder meine Stimulanzien zu nehmen und wundere mich dann, warum der Tag so schleppend läuft und ich nichts auf die Reihe bekomme. Ab und zu gönne ich mir auch bewusst einen Tag, an dem ich nicht funktionieren muss und lasse die Medikamente weg. Auch an Tagen, an denen ich schon mit Kopfschmerzen aufwache. Es fällt mir deutlich schwerer auf Schokolade zu verzichten, als auf meine Stimulanzien.

Und was hat die Migräne in den zwei Wochen gemacht? Da merke ich ohne Stimulanzien keinen signifikanten Unterschied. Mit diesen Argumenten hat der Neurologe ein Einsehen und ich bekomme nicht nur mein Rezept für die ADHS-Medikamente, sondern tatsächlich auch ein Rezept für die Antikörper!

Jetzt, gut ein halbes Jahr später, sind die Migräne-Anfälle wieder nebensächlich geworden. 1–2 Mal im Monat ein leichter Anfall. Meistens brauche ich nicht mal mehr Akut-Medikation. Meine Lebensqualität hat sich dadurch deutlich verbessert!

Und ich kann besser einschätzen, was die ADHS-Medikation mit mir macht. Die Wirkung ist subtil, aber gleichzeitig verbessert auch sie meine Lebensqualität enorm. Es ist kein Wundermittel mit dem plötzlich alle meine Schwierigkeiten verschwinden, und ich funktioniere auch nicht wie jemand ohne ADHS, aber es hilft mir sehr, mich in einer Gesellschaft, die nicht für mich geschaffen ist, besser zurechtzufinden.

Leben machen – Teil 6, nachdem es wieder nicht geklappt hat

[Janne]
Erst konnte der teure Monitor meinen Schwangerschaftstest nicht auslesen und ich mich kaum entscheiden, ob ich doch nochmal welche kaufe, dann, keine 24 Stunden später: Krämpfe, Blut und Tränen.

„Schade“, sagte mein Mann. „Schade“, fühlte ich.

Ich hatte ein gutes Gefühl. Es ging mir sehr gut.
Seit ich mich ernährungs- und verhaltenstechnisch empfängnisbereit wie ein Schloßhoftor mache, ist mein PMDS verschwunden. PMDS, das steht für „prämenstruelle dysphorische Störung“. Und für massiv depressive Einbrüche vor der Menstruation bei mir.
Die ich lange für normal hielt. Bis sie unerträglich wurden. Da dachte ich, was für ein Pechvogel ich doch bin. Da menstruiere ich schon nicht mal freiwillig, sondern umstandsbedingt und dann ist es so krass, dass ich von vier Wochen im Monat eine traurig bin, weil ich nicht schwanger bin; eine, weil ich nicht genug dafür bin, schwanger werden zu dürfen und eine, weil mein Körper mich hormonbedingt depressiv und suizidal macht.

Inzwischen nehme ich seit Jahren Mönchspfeffer und seit Kurzem auch pflanzliches Östrogen. Ich gebe mehr als die Hälfte meines Geldes für Biolebensmittel aus, ernähre mich vegan, nehme Folsäure, Zink, Magnesium, Calcium, B12 und D3. Dreimal die Woche mache ich Sport, bei Bedarf auch häufiger.
Und es hat geholfen.
Es geht mir hervorragend in der Woche vor der Blutung.

Umso tiefer ist der Fall von der Klippe, vor der es nur eine einzelne Linie gibt.
Dass dem Aufprall ein „Schade“ an die Seite gestellt wird, erscheint mir wenig. Doch da unten in diesem tiefen Tal, ist es besser vom schwachen Schein des „Schade“ angeleuchtet zu werden, als im Dunklen zu sein.

Man muss sehen können, wohin man einen Schritt nach dem anderen weitermacht.