[Disa] »Heute wollen doch alle eine Diagnose!« oder »Heute haben doch alle eine Diagnose!« Wer sich in seinem Umfeld als Mensch mit XYZ outet, bekommt meistens – und meistens ungefragt – solche Sätze um die Ohren gehauen. Als ob sich eins um jeden Preis ein neues Label um den Hals hängen wollte! Wollen wir gar nicht, aber verstehen wollen wir.
Wie sicher bin ich denn, dass ich im Autismusspektrum bin und warum ist es mir ein Anliegen, darauf diagnostiziert zu werden?
Antwort: Vielleicht traue ich meiner Selbsteinschätzung nicht ganz und möchte gern, dass mir eine Person, die mich viel weniger gut und viel weniger lang kennt, kraft ihres Fachwissens zusichert, dass es tatsächlich so ist, wie ich es mir denke. Immerhin lag ich schon bei zwei anderen Diagnosen richtig, die anschließend offiziell medizisch bestätigt wurden.
Doch einmal ungeachtet von durch Dritte erteilten Diagnosen wünsche ich mir seit vielen Jahren schlicht eine Erklärung für mein So-Sein, für mein Anders-als-die-andern-Sein. Im Gegensatz zu all jenen, die ihr Ich-bin-so-verdammt-anders-als-der-Rest-der-Welt laut feiern und ihre Originalität betonen, wollte ich überhaupt nie anders sein. Ich wollte einfach nur dazugehören, mich zugehörig fühlen. Doch nichts da, ich eckte durch bloße Anwesenheit an – allerdings eher inwendig und unsichtbar. Mehr auf die Art, dass ich keinen Anschluss fand, nicht verstand, worüber gesprochen wurde und was von mir unausgesprochen erwartet wurde. Weil ich den Kontext nicht verstand. Weil ich nicht über die Witze lachen konnte – oder dann nur äußerlich, ohne sie lustig zu finden. Kurz gesagt: Weil ich anders war.
Seit ich dem von meiner Ärztin während der ADHS-Diagnostik geäußerten Verdacht, ich könnte autistisch sein, erst ein wenig, dann mehr und mehr Raum gegeben habe, mich eingelesen, viel recherchiert, viel verstanden habe, finde ich den Verdacht logisch. Unterwegs auf dieser Suche erlebte ich – was für ein Glück! –, dass ich nicht allein, sondern Teil einer Gemeinschaft bin. Die Freund*innen, die ich im Echtleben finden durfte, sind übrigens auch auf die eine oder andere Weise anders. Es geht nichts über Verbundensein.
Nach wie vor bin ich davon überzeugt, dass niemand freiwillig autistisch sein will. Wir, die wir anders als der größere Teil der Menschheit sind, wollen allerdings verstehen, was dieses Anders-Sein bedeutet und was uns ausmacht. Dabei zu erleben, dass wir nicht allein sind, tut gut.
In einem Gespräch mit einer Fachperson aus dem Psychiatriebereich erfuhr ich kürzlich, dass es in der Fachwelt in Bezug auf die Autismusspektrumstörungsdiagnose gerade ziemlich chaotisch zugeht. Alle möglicherweise Betroffenen scheinen auf einmal eine Autismusspektrum-Diagnose zu wollen, sagte diese Person. Die Diagnosen werden neuerdings frei Haus gestellt. Alle, die die Diagnose wollen, bekommen sie. Sagt mein Gegenüber. Es positionierte sich auf der Seite derer, die dieses geradezu inflationäre Drauflos-Diagnostizieren nicht gut heißen. Es werde zu leichtfertig diagnostiziert. Zu unabgegrenzt.
Die Fachperson führt es mir am Beispiel eines Symptoms vor. Sagen wir z. B. Person A leidet an ihrer Hypervigilanz. Weil dieses Symptom tatsächlich Autismus zugeordnet werde, ordnen die Diagnostiker*innen Person A automatisch auf die Autismusschiene ein. Statt zu schauen, welche anderen Krankheiten damit ebenfalls verknüpft seien und nach den Ursachen zu forschen. Es werde zu wenig nach umfassenderen Zusammenhängen geschaut. Trauma zum Beispiel. Außerdem sei Hypervigilanz – um beim Beispiel zu bleiben – ja auch ein ADHS-Syptom. Außerdem sei Autismus eine strukturelle Störung, während ADHS eine funktionelle Störung sei. Beide haben noch keine Biomarker, was die ganze Unklarheit noch verstärke. So viel zum Gespräch.
Ich persönlich finde solche Streitigkeiten peinlich; da ist mir zu viel Grundsatz-Misstrauen. Die Unterstellung der einen Seite, leichtfertig und damit eben auch unrechtmäßig Diagnosen zu stellen, lässt mich seitlich überholend in eine Nebenstraße abbiegen und fragen: Wem schadet es denn, wenn Menschen, die sich nach Erklärungen sehnen, eine (mögliche) Antwort – und im Idealfall sogar Hilfe – für ihre Situation bekommen? Ich frage mich auch, vielleicht ein bisschen naiv, ob denn der therapeutische Ansatz tatsächlich so anders wäre, wenn ein Symptom aufgrund einer Autismus- statt einer anderen Diagnose behandelt würde? Immerhn werden ja auch ständig noch nicht diagnostizierte Neurodivergente mit Standardmethoden behandelt, obwohl sie vielleicht ‚nur‘ wegen ihrer Neurodivergenz rezividierend depressiv sind und andere Methoden besser helfen würden. (Ich bin keine psychiatrische Fachperson, nur ein Mensch mit viel Therapieerfahrung. Und mit vielen Fragen.)
Soll womöglich, denke ich weiter, verhindert werden, dass sich Menschen von ihren Ärzt*innen empanzipieren, indem sie ihre Selbstdiagnose selbstbewusst als Fakt behandeln, statt sich weiterhin einreden zu lassen, dass sie eine Macke haben, die behandelt werden muss. (Sorry, das ist jetzt vielleicht ein bisschen zu flapsig ausgedrückt. Über Autismus-Therapien wie zum Beispiel ABA [Applied Behavior Analysis] wird viel diskutiert. »Autistische Verhaltensweisen werden durch Drill abtrainiert«, sagt Marlies Hübner hier hierzu.)
Lassen wir uns doch einfach alle so sein, wie wir sind, denke ich sehr oft, denn ich mag mich nicht mehr anpassen, ständig maskieren, vor Ausgelachtwerden schützen. Ich wünsche mir, dass wir uns alle in unserer Buntheit gegenseitig akzeptieren. Letztlich sind wir eh alle neurodivers.
Da fällt mir eine frühere Psychiaterin ein, die mir riet, jeder Diagnose gegenüber ein gewisses Grundmisstrauen zu haben. Jede Diagnose, sagte sie sinngemäß, basiere auf dem aktuell vorhandenen Wissen und werde jeweils im Kontext von Zeitgeist und aktueller Erfahrung definiert. Nichts sei für immer in Stein gemeißelt, alles verändere sich laufend. Und vieles – gerade auch über psychische Krankheiten und Störungen – wissen wir einfach noch nicht, vieles werde erst noch erforscht. Auch Dr. Devon Price, der Autor von Unmaskin Autism*, ermutigt dazu, sich von der Diagnostik durch Fachpersonen zu emanzipieren.
Was andere von außen an uns beobachten, entspricht nicht dem, was und wie wir etwas tatsächlich erleben. Darum geschieht eine Selbstdiagnose von innen heraus, aus Selbsterfahrung, Selbst(er)kenntnis, Selbstbeobachtung – im Abgleich mit dem aktuell erforschten Wissen und Verständnis. Nur wir selbst kennen unsere Stolperstellen, die Bereiche, in denen wir uns anders als Allistische und Neurotypishe verhalten. Und natürlich sind alle Hirne unterschiedlich. Ich meine hier jenes ganz bestimmte Anderssein aller Autismus-Betroffenen. Wie sich allistische Hirne ähneln, ähneln sich eben auch autistische Hirne – bei aller Unterschiedlichkeit.
Zurück zu mir. Warum denke ich, dass ich autistisch bin, obwohl die Diagnostik noch nicht stattgefunden hat? Es ist die Vielzahl einzelner Symptome, die ich mir nicht mehr anders erklären kann. Dabei denke ich an jene Vielzahl von Symptomen, an denen ich litt, bevor ich wusste, dass ich histaminintolerant bin und die Ernährung komplett umstellte. Da waren Probleme mit dem Bauch, der Verdauung, dem Kopf mit all seinen Schleimhäuten, der Speiseröhre, der Haut. Dazu die häufigen Kopfschmerzen. Lange hatte ich alle Symptome unabhängig voneinander betrachtet und teils behandelt, immer ohne sichtbare Veränderung. Nach Umstellung der Ernährung kam endlich die Besserung. Weil eben alles zusammenhängt. Ähnlich war es mit dem ADHS. Viele Erklärungen fand ich mit dieser Diagnose. Viele Erklärungen fehlen noch.
Betrachte ich die Einzelsymptome im Zusammenhang miteinander, weisen sie deutlich auf Autismus hin. Wenn etwas muht wie eine Kuh, scheißt wie eine Kuh und aussieht wie eine Kuh, ist es meistens eine Kuh, heißt es doch so schön.
* erscheint im April 2025 auf Deutsch (Link)