#AuDHS = #ADHS + #Autismusspektrum | Nachdenken über Schnittmengen und Gegensätze

[Disa] Als Kind bekam ich von meiner Tante M. ein Taschentuch für Zwillingsgeborene. Auch sie war Zwilling, ebenso meine Mutter und einer meiner Brüder, dem unsere Tante ebenfalls so ein Taschentuch schenkte. Weil ich Tante M. und ihre ansonsten pädagogisch wertvollen Geschenke mochte – die Matrjoschka und das Dalarna-Pferdchen habe ich sogar ins Erwachsenenalter gerettet –, zweifelte ich nicht an der Botschaft auf dem Taschentuch, leichtgläubig wie ich war. Also wuchs ich, dank Taschentuch, im Glauben auf, meine Zwiegespaltenheit in allen Dingen, die ich schon als Kind sehr bewusst wahrnahm, sei astrologisch vorherbestimmt. Der Text auf dem Taschentuch war da sehr eindeutig.

Heute weiß ich es besser. Astrologie ist Quatsch und meine Buntheit hat mit meinem So-Sein zu tun. Während der ADHS-Diagnostik erwähnte meine gute Dr. ADHS, dass manche meiner Testergebnisse auf Autismus hinweisen könnten. Sie kenne sich allerdings nicht gut genug aus, um das beurteilen zu können.

Noch habe ich keine Autismusdiagnose, die Warteschlangen zur Diagnostik sind lang. Ich hoffe, dass ich in einigen Monaten mehr weiß. Inzwischen habe ich mich selbst schlau gemacht und weiß daher, dass die Kombi Autismus/ADHS so selten gar nicht ist, ich nenne sie hier kurz AuDHS.

Seit einem Jahr nehme ich ein Medikament, das mein ADHS-Hirn unterstützt. Seither fühle ich die autistischen Symptome deutlicher. Ich empfinde sie quasi als freigestellt … Vorher haben sich die beiden Wesensarten gegenseitig überlagert und sorgten so für eine ziemlich anstrengende eingeschränkte Lebensqualität. Hott und Hü. Mit und dank Medikament erkenne ich die Prozesse in mir deutlicher, kann vieles besser handhaben und die Lebensqualität ist generell deutlich gestiegen.

Auf der folgendem Grafik fasse ich meine persönlichen Symptome zusammen. In der Mitte die Schnittmenge, in den zwei äußeren Spalten meine Symptome, die entweder der einen oder der anderen Diagnose zugehörig sind.

Meine Zwiegespaltenheit, siehe oben, hat also – so erkenne ich heute – mit den gegensätzlichen Kräften in mir zu tun. Ich habe die für mich gegensätzlichsten Kräfte farbig markiert. Neurodivergenz ist zwar bunt, aber oft ganz schön anstrengend.

Ich wünsche mir, das ich diese ganze Mélange weiter entspannen kann, noch mehr Druck herausnehmen. Noch weiß ich zwar nicht wie, aber ich übe weiter …

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Bildbeschreibung/Alternativtext unter der Grafik:
(Draufklick für groß)

Textgrafik, Text unter der Grafik lesbar

Die Grafik zeigt zwei Kreise. Der linke Kreis ist mit Autismusspektrum übertitelt, der rechte mit ADHS. Die Kreise haben eine Schnittmenge.

Der linke Kreis hat folgenden Inhalt:

  • Hoher Ruhebedarf,
    generell tiefes Stresslevel
  • Gern im Rückzug (Schneckenhaus/Kokon) | Regeneration am besten allein oder nur mit Partner | Natur hilft bei der Regeneration
  • Bemerken/Wahrnehmen kleiner Details, die andere nicht sehen
  • Hoher Bedarf an Struktur, Regeln, Routinen & Planung, Vorhersehbarkeit, Wiederholung, | Veränderung von Abläufen ist sehr stressig | Vorbereitung und klare Abmachungen sind wichtig
  • Berührung/Anfassen mancher Dinge wird als sehr unangenehm empfunden | (unangekündigtes) Berührtwerden ist unangenehm
  • Augenkontakt ist kein natürliches Bedürfnis
  • Oftmaliges Nichtverstehen von Ironie u/o sozialen Codes

Der rechte Kreis hat folgenden Inhalt:

  • (Innere) Hyperaktivität & Impulsivität
  • Grenzenlosigkeit/überbordende Grenzen
  • Hoher Stimulations- & Inspirationsbedarf
  • Exekutive Dysfunktion & Chaostendenz bei Umsetzung von Plänen & im Haushalt/Ordnung
  • Unterstimulation erzeugt Unkonzentriertheit und fördert Ablenkbarkeit und Fehlerbereitschaft
  • Zeitblindheit (auf einmal ist viel Zeit vergangen)
  • Motivierbarkeit bei uninteressanten Aufgaben sehr schwierig
  • Gleichzeitige Wahrnehmung von Ereignissen, was Priorisieren schwierig macht

Die Schnittmenge hat folgenden Inhalt:

  • Hyperfokus
  • Reizempfindlichkeit (Licht, Geräusche/Lärm, Geruch/Gestank, Berührungen)
  • Reduzierte Energiereserven
  • (Synästhesie & MirrorTouch)
  • Dauerhafte anstrengende Anpassungsleistung (Masking)
  • Ablehnungsangst/-empfindlichkeit
  • Soziale Ängste/Beziehungsfindung/-pflege
  • Stimming

Reisevorbereitungen mit #ADHS – Fazit

Nun ist die lange erwartete Reise schon längst Geschichte. Eine wunderschöne Reise war es, auch wenn nicht alles nach Plan gelaufen ist. Und ich habe – typisch ADHS – noch gar nicht berichtet wie der ganze Bürokratie-Kram ausgegangen ist. Dabei ist das schnell erzählt.

Kurzfassung: Niemand hat sich dafür interessiert.

Ich habe die Bescheinigung zusammen mit den Medikamenten im Handgepäck aufs Schiff gebracht ohne bei der Sicherheitskontrolle irgendetwas vorzeigen zu müssen. Unterwegs sind die Medis eh an Bord geblieben (und es gab nirgendwo Kontrollen wenn ich von Bord gegangen bin) und bei der Ausschiffung bin ich auch nicht vom Zoll kontrolliert worden. Hier hatte ich ehrlich gesagt die grösste Wahrscheinlichkeit für eine Kontrolle gesehen da der Zoll immer stichprobenartig Passagiere kontrolliert.

Würde ich bei einer ähnlichen Reise jetzt auf all den Papierkram verzichten? Nein, denn das ist mir dann doch zu riskant. Ohne entsprechenden Nachweis mit BTM erwischt zu werden kann richtig doof werden, und das möchte ich wirklich nicht erleben.

Für einen Wochenend-Trip mit dem Auto in die Niederlande habe ich trotzdem auf die offizielle beglaubigte Bescheinigung verzichtet. Ich habe ja auch noch meinen ADHS-Ausweis in dem bestätigt wird das ich auf diese Medikamente angewiesen bin. Ob das bei einer Kontrolle im Ausland wirklich gereicht hätte weiß ich nicht und ich will dieses Vorgehen auch niemandem empfehlen. Aber für 2 Nächte konnte ich mich nicht dazu bewegen den ganzen Aufwand (zeitlich und finanziell) durchzuziehen.

Mein #ADHS-Coaching Teil 5

Teil 5: Wie wir Konflikte und Ärgernisse als Chancen erkennen können  | Emotions- und Impulsregulation

[Disa] Nach der Sommerpause und zwei Sitzungen, in denen es mehr oder weniger um das Vertiefen des früher Besprochenen und um meinen Umzug gegangen war, komme ich dieses Mal erstmalig ohne wirklich brennendes Anliegen in die Sitzung. Ich blicke dankbar zurück auf all das, was sich bereits zum Besseren verändert hat, seit ich die Medikamente, die mir Dr. ADHS verschrieben hat, nehme und im ADHS-Coaching bin.

Ich habe im letzten Jahr viel Lebensqualität dazugewonnen, die Unterstützung durch das Medikament hat viel bewirkt. Ich erinnere uns daran, wie fremd sich am Anfang dieser Umstand, dass ich nicht mehr die ganzen vielen Reize wahrnehme, nicht mehr alles sehe, höre und mitbekomme, weil ich jetzt filtern kann, angefühlt hat. Dass ich auf einmal Grenzen habe, nicht mehr energiemäßig immer auslaufe und mitfühlend ständig über meine Grenzen fließe. Wie ich deswegen aber auch vergesslicher geworden bin, mir neue Merkstrategien aneignen musste … alles in allem, sage ich, fühle ich mich heute viel stabiler, die Außenhaut ist dichter geworden, ich habe keine Lecks mehr – zumindest viel weniger.

Welches denn all die Themen seien, die Dr. ADHS normalerweise in ihren Coachings bearbeite, will ich deshalb wissen.

Dr. ADHS zählt die Überthemen auf, die für ADHS-Betroffene oft Baustellen sind:

  • Motivation/Selbstmotivation
  • Impuls- und Emotionsregulation
  • Planung/Organisation
  • Zeitgestaltung
  • Kommunikation: die Dritten und das Umfeld

Es sei allerdings sinnvoller, die Themen nicht theoretisch abzuhandeln, sondern sie in den persönlichen Kontext zu stellen.

Bei den ersten beiden Themen habe ich aufgemerkt und mich sogleich an einen kürzlich erlebten Ausraster erinnert. Ich hatte wieder einmal mein Mittel weggelassen. Das tue ich hin und wieder, um den Unterschied bewusst zu spüren. Manchmal auch nur, wenn ich sehr müde bin und tagsüber auf ein längeres Nickerchen hoffe, was mit MPH eben nicht geht (wegen dessen Wachhaltefunktion). Ich nehme dann in Kauf, dass ich womöglich dünnhäutiger sein werde.

Wegen einer Bagatelle war es zu einem unschönen Wortwechsel mit meinem Partner gekommen, ich hatte ihn angeblafft. Kurz hatte es sich gut angefühlt, wie ein Ventil, das endlich Luft ablassen kann, dann aber vor allem beschämend. Früher war ich immer irgendwie (blöderweise) stolz auf meine Selbstkontrolle und Impulsunterdrückung gewesen, ohne mir bewusst zu sein, wie viel Energie ich damit fürs Maskieren des bedürftigen, sich zeigenwollenden Gefühls verbraten habe.

Heute sehe ich das anders. Ich will mich nicht ständig zusammenreißen müssen. Mein Partner ist zum Glück sehr geduldig und wir haben uns später ausgesprochen. Das Gespräch mündete bei mir in der Erkenntnis, dass ich in der erlebten Situation mehr Überblick gebraucht hätte.

Ich erzähle Dr. ADHS von dieser einen Situation, die exemplarisch für andere Momente steht, in denen ich zuweilen ausraste. Meistens sind es physische Dinge, die mich an meine Grenzen bringen. Etwas, das nicht funktioniert; etwas, das ich nicht kann, das mir nicht auf Anhieb gelingt; etwas, das zu lange dauert; etwas, das sich unagenehm anfühlt. Entweder dissoziiere ich dann kurz (früher mehr als heute) und/oder ich verfalle in eine Art (Warte-)Paralyse. Oder ich raste eben verbal kurz aus und schnauze jemanden an.

Ich fühle etwas und reagiere meistens unmittelbar. Das Fühlen an sich kann ich nicht steuern, doch es fühlt sich je nach Tagesform unterschiedlich an. Mal so, mal so. Mal bin ich gelassener, mal ist die Haut dünn. Steuern, oder besser übersteuern – also mit dem Verstand etwas ändern –, kann ich nicht das Fühlen, aber meine Reaktion (und manchmal auch Tagesform und Umfeld), weil ich mich nämlich ja nicht so (mies), sondern besser fühlen will. Gefühle sind immer schneller als Gedanken, das ist evolutionsbedingt, erklärt Dr. ADHS.

Ich habe in meinem Leben viele Erfahrungen gesammelt, habe Erfahrungswerte, weiß im Grunde, was hilft. Möglicherweise kann ich Situationen wie diese punktuell entschärfen, in dem ich vor dem sich anbahnenden Ausrasten kurz aus dem Raum gehe. Oder auf 10 zähle … etc. Generell hilft es nicht, die Gefühle zu ignorieren, sondern sich nach Lösungen umzuschauen.

Im besagten Beispiel ging es um etwas, das mich physisch störte. Doch »das stört mich!« zu sagen – wie nett auch immer – ist natürlich keine Lösung, sie erzeugt nur Schuldgefühle und bringt nicht weiter. Ich will und kann meinen Partner nicht ändern, er ist genau so genau richtig. Ich auch. Take it or leave it, heißt es schließlich, nicht Take it or change it.

Wichtig aber ist, dass ich zu meinen Bedürfnissen stehe und stehen darf. Wie sähe es also aus, wenn wir uns nicht nur nach einem Kompromiss, sondern sogar nach einer Win-Win-Lösung umsähen? Was brauche ich? Was wäre auch gut für meinen Partner?

Dr. ADHS schlägt mir etwas ganz Konkretes vor, etwas materiell Machbares (auf das ich theoretisch auch selbst hätte kommen können) und ich bin extrem angetan von ihrem Vorschlag, zumal er relativ leicht umsetzbar ist. Wäre doch jedes Problem so leicht lösbar. Es ist ein Beispiel, das mir Mut macht. Mut zur Akzeptanz von Bedürfnissen, von Grenzen, von Alternativen. Auch das bedeutet verantwortungsbewusst zu leben.

Ausgangslage ist oft ein Ärgernis, es ist mit einem körperlichen Schmerz vergleichbar, der uns auf eine mögliche Schwachstelle des Körpers aufmerksam macht, um die wir uns kümmern sollten. Das Ärgernis lässt sich nicht immer einfach wegmachen, es verlangt unsere Aufmerksamkeit, unsere Hingabe. Das ist ein wichtiger Moment, der uns zur Suche von Lösungen bringt und zur Verbesserung der Umstände. Im Idealfall sogar zu mehr Lebensqualität.

Abschließend sprechen wir über das jeweilige Lebensglück. Ich bin nicht – durch Selbstverzicht zum Beispiel – für das Lebensglück, das Wohlergehen und die Bedürfnisse meines Partners hauptverantwortlich, er nicht für meins und meine, dennoch wollen und können wir uns gegenseitig Gutes tun. Die letzte Verantwortung haben wir jedoch immer nur für uns selbst.


Teil 1
Teil 2
Teil 3
Teil 4

Alle Teile

Fortsetzung folgt

Was bei #ADHS helfen kann | Medikamente nehmen Teil 4

[Disa] Wie ich mich jedes Mal nerve, wenn ihm TV Mist über ADHS verbreitet wird! In einer Serie, die ich gestern geguckt habe, wurde eine ADHS-Betroffene wegen ihrer Ritalin-Sucht behandelt. Es wird gezeigt, wie sie am Abend heimlich und verstohlen eine Tablette nimmt. Sie müsse diese Sucht unbedingt aufgeben!, sagte die Ärztin später zu ihr. Sie müsse lernen, ohne diese Droge zu leben.

What a f*ck! Sorry, aber bei so viel Mist werde ich leicht ungehalten.

Dass Methylphenidate (MPH) wie Ritalin und Co. von Nicht-ADHS-Betroffenen als Droge missbraucht werden, ja, oke, verstehe ich. Aber dass ADHS-Betroffene freiwillig überdosieren? Ne, glaub ich jetzt eher nicht. Bei uns ist die Wirkung ja genau umgekehrt. Durch das Endlich-Genug-Dopamin werden wir konzentriert und fokussiert, endlich weniger hibbelig, während ein Zuviel – wie ich später noch erzählen werde – ähnlich unangenehm ist wie ein Zuwenig.

Leider wissen viele Drehbuchschreiber*innen offensichtlich nicht, dass MPH keinen Pegel erzeugt, wie es die meisten(?) Psychopharmaka vermutlich tun. MPH dagegen ist in maximal zehn Stunden wieder raus aus dem Körper. Ich habe im Laufe der Zeit bei mir beobachtet, wie lange das MPH bei mir wirkt und habe eine etwa 6-8 stündige Wirkzeit erkannt. Auch geht es mir defintiv besser, wenn ich das Mittel relativ bald nach dem Aufstehen nehme.

Im folgenden Text fasse ich meine Erkenntnisse aus meinen letzten beiden Sitzungen, in denen es um das Eindosieren und Finden meiner persönlichen Dosis ging, zusammen. Ich möchte mit dem Teilen meiner Erfahrungen so gern die ganzen Vorurteile über ADHS, die im Umlauf sind, aufheben.

Natürlich ist so ein Mittel – wie letztlich jedes Medikament – ein Eingriff in mein System. Manche Menschen reagieren mit starken Nebenwirkungen. Bei mir traten als Nebenwirkungen wiederholtes Verspannungskopfweh, Mundtrockenheit und Pickel auf. Alle drei können von Methylphenidat (MPH) ausgelöst werden.

Für das Kopfweh empfiehlt mir Dr. ADHS, hochwertiges und hochdosiertes Magnesium einzunehmen. (Was, wie ich im Rückblick nach zehn Monaten sagen kann, bestens funktioniert. Das Kopfweh hat sich wieder normalisiert, heißt, ich habe es ähnlich oft oder selten wie vor der Medikation.) Fakt ist, dass MPH dem Körper mehr Spannung beschert. Dagegen hilft Magnesium meistens gut. Doch wer langfristig hochdosiertes Magnesium einnimmt, sollte unbedingt auch auf genügend Calcium achten, da sonst die Knochensubstanz angegriffen werden kann. Der Abend sei für Magnesium die beste Einnahmezeit, weil es ja zur Entspannung und Entkrampfung beitrage, sagt meine Ärztin. Was ich zwar nachvollziehen kann, aber die Verspannungen, die das ADHS-Mittel macht, spüre ich ja vor allem tagsüber. Ich werde es wohl so halten, dass ich am Morgen und am Abend etwas nehme.

Einmal jährlich soll gecheckt werden, wie mein Körper mit dem MPH klarkommt, Blutbild, Blutdruck etc.. Gut zu wissen!

Ich habe Glück, dass ich mein Mittel so gut vertrage. Die Pickel haben sich – so kann ich glücklicherweise im Rückblick sagen – wieder verkrümmelt, nachdem ich die richtige Dosis gefunden hatte. Mit der Mundtrockenheit habe ich zu leben gelernt, ich trinke öfter.

Kurz gesagt: Die positiven Effekte überwiegen bei mir definitiv. Ich habe deutlich mehr Lebensqualität und weniger Leidensdruck. Meine Wahrnehmung der Unterschiede – Leben mit und ohne das Medikament – ist immer facettenreicher geworden. Ich habe mehr Bewusstsein für mich und meine Grenzen. War ich vorher grenzenlos, spüre ich mich inzwischen immer besser. Auch bin ich nicht mehr die, die immer alles überblickt, mitbekommt, wachsen hört, sieht und wahrnimmt. Jetzt bin ich auch mal die, die nicht mehr weiß, wo die Schlüssel liegen. Ich kann nicht mehr alles vorausahnen und überblicken, sondern muss mir jetzt Strategien überlegen, damit ich die Dinge nicht vergesse.

Ich sage meiner Ärztin, dass ich zwar zufrieden bin, nur gern weniger hibbelig wäre. Viel ist besser geworden, aber die Hibbeligkeit mag ich nicht. Müsste die denn nicht endlich weniger werden? Statt früher 15 Kanäle, die mich gleichzeitig bespielen, habe ich inzwischen nur noch etwa 5-10, mir wäre lieber, es wären noch weniger, sage ich.

Wir überlegen, dass ich testweise die Dosis leicht erhöhen könnte, was ich schließlich die nächsten Tage tue, aber bald merke, dass ich die positiven Eigenschaften zwar immer noch wahrnehme, mich jetzt aber irgendwie abgehoben, abgeschnitten, unempathisch, fast zu sehr nur auf mich fokussiert fühle. Und – vor allem – jetzt sogar noch hibbeliger geworden bin.

Also mache ich genau das Gegenteil: ich verringere die Dosis. Die Kapseln lassen sich ja sehr gut öffnen. Ich experimentiere, bis ich nach und nach die richtige Dosis, die Hälfte der Anfangsdosis, finde. Da habe ich nun alle Benefits und endlich ist die Hibbeligkeit weniger geworden. Und die Pickel sind auch Geschichte.

Diese Phase mit der Überdosierung war schlimm – und doch erhellend und somit notwendig, um die Wirkung von MPH zu begreifen. Ich habe mich mir fremd gefühlt und für mich erkannt, dass sowohl zu wenig als auch zu viel Dopamin schwierig sind. Die richtige Dosis findet sich auf einem sehr schmalen Weg. Auch wenn es bei mir schließlich eine relativ kleine Dosis ist, macht sie doch, so im Rückblick, einen gewaltigen Unterschied in der Wahrnehmung meiner Innen- und Außenwelt.

Mit meiner eher kleinen Dosis bin ich übrigens nicht allein, die Wohlfühldosis ist tatsächlich sehr individuell. Und je älter eine*r ist, desto weniger Dopamin-Transporter hat sie*er, also braucht eine*r je älter je weniger Dopamin, um das gewünschte Level zu erreichen.

Es ist ein tolles Gefühl: endlich bestimme ich. Ich kann wählen. Ich muss nicht, aber ich kann. Ich sammle jetzt Erfahrungen und ich darf auch mal danebenhauen. Das darf sein. Ich werde im Laufe der Zeit fühlbar selbstsicherer, weil ich nun selbst bestimmen kann.

Das alles ist nicht nur ein kognitiver Prozess, ein Verstehen im Kopf, es geht vor allem auch darum, das alles zu fühlen. Die langfristigen Verhaltensveränderungen, die ich herbeiführen will, sollen besonders auch auf der Fühlebene passieren.

Eine Beobachtung, die ich erst allmählich mache:
Meine Tagesmüdigkeit ist fast ganz verschwunden. Das hat zwei Gründe: 1.) Die Substanz ist nicht nur ein Dopaminbooster, sondern eben auch ein etwa zehn Stunden wirksamer Wachmacher, was jedoch nicht bedeutet, dass ich zehn Stunden lang einen hohen Dopaminspiegel habe (dieser hält sich, je nach persönlichem Stoffwechsel und gewähltem Medikament, 4-8 Stunden).
2.) Ich bin nun abends, da ohne Nickerchen tagsüber, viel müder, so dass ich, wenn Wachmacher und Dopaminboost wieder aus dem Körper raus sind, entsprechend (meist mit Melatonin) richtig gut schlafen kann. Nicht immer, aber immer öfter.

Inzwischen habe ich deutlich mehr Selbstvertrauen in mich und meine Instinkte, Gefühle und Wahrnehmungen gefunden. Das freut mich sehr.

Ich empfinde mich …

  • innerlich ruhiger
  • weniger (schnell) müde
  • ausdauernder
  • weniger schnell genervt und gereizt
  • positiver/optimischer

Abschließend zeigt mir Dr. ADHS auf einer ihrer Textgrafiken, wo genau was passiert:

  • Das limbische (Belohnungs-)System reagiert auf genug Dopamin mit »innerlich ruhiger«
  • Der Thalamus kann wegen genug Dopamin Reize besser abschirmen und lässt mich mich »weniger (schnell) müde« fühlen.
  • Im Präfrontalen Cortex geschieht durch genug Dopamin, dass ich entscheiden kann und will, »positiver« zu sein.

Während ich mit zu wenig Dopamin vieles automatisch mache, geht es neu darum, die Dinge bewusst zu tun. Das erklärt auch meine neue Vergesslichkeit. Vorher hat sich mein Hirn herumliegende Dinge automatisch gespeichert, weil ich keine Filter hatte und alles unpriorisiert wahrnahm, doch darauf kann ich nun irgendwie nicht mehr zugreifen. Gefühlt ist es manchmal wie eine noch fast leere Festplatte ohne Dateirn oder ein anderes neues Betriebssystem, das ich erst kennenlernen muss …

»Das Hirn ist bis ins hohe Alter beweglich«, sagt Dr. ADHS sinngemäß, »und hocheffizient. Wenn ich davon überzeugt bin, dass ich etwas nicht mehr kann, werden jene Areale »geschlossen« und das Hirn, die Hirntätigkeit, wird dort eingestellt. Aktiviere ich das Hirn aber ständig, indem ich Neues lerne, bleiben alle Bereiche im Hirn aktiv. Use it oder lose it. So arbeitet das Hirn«.

»Sie tun schon viel, Sie haben bereits viel getan«, sagt sie, als ich von meiner Erfahrung mit meiner mir in den Phasen der Überdosierung beinahe abhanden gekommenen Empathie spreche. »Die Empathiefähigkeit gehört zu Ihnen, ist Teil Ihrer Persönlichkeit. Sie ist nicht nur wegen mehr oder weniger Dopamin aktiv, Sie können sie steuern. Neu werden Sie nicht mehr überflutet und daran müssen Sie sich gewöhnen. Jetzt ist das noch neu, aber irgendwann wird das Ihr neues Normal sein.«

Ich habe es jetzt endlich selbst in der Hand und bin nicht mehr den Fühlfluten ausgeliefert.


Teil 1
Teil 2
Teil 3

Ende

Was bei #ADHS helfen kann | Medikamente nehmen Teil 3

[Disa] Inzwischen habe ich bereits zwei Wochen Erfahrung mit meinem Medikament (Dexmethylphenidat) gesammelt. Am Anfang der Sitzung erzähle ich Dr. ADHS, was ich bisher mit Focalin erlebt habe. Sie schreibt mit und erklärt mir anschließend, was da gerade in meinem Hirn passiert. Dabei erstellt sie zur Veranschaulichung wieder eine Textgrafik.

Der Thalamus, den ich bereits von früheren Sitzungen kenne, reagiert auf die höhere Dopamingabe so, dass er einen Puffer, einen Filter auf meine Wahrnehmung legt. Die Dopamingabe schenkt mir beispielsweise, dass ich Geräusche nicht mehr so unmittelbar laut und nervig wie ohne Dopamin wahrnehme. Das erste Geschenk.

Das zweite Geschenk ereignet sich im Präfrontalen Cortex (PFC): Das ist der Ort der Steuerung. Wenn zu wenig Dopamin zur Verfügung steht, steuert das Hirn ohne meine Mitbestimmung meine Wahrnehmung und meine Interpretation von Einflüssen, was zu diesem mir sehr vertrauten Fremdsteuerungsgefühl führt. Was sehr anstrengend ist. Dank genug Dopamin bin ich zunehmend in der Lage, selbst zu steuern, wie ich wahrnehme und wie ich die Wahrnehmungen interpretiere.

Dort fängt dann die Eigenleistung an. Meine bisherigen guten Erlebnisse und Wahrnehmungen mit Focalin waren bisher eher zufällig, doch die Therapie, die ich jetzt hier mache, zielt darauf ab, dass ich gute Erfahrungen willentlich herbeiführen lernen kann. (Davon aber später.)

Erst sprechen wir jedoch noch über das dritte Geschenk: Mein lymbisches System belohnt mich mit mehr innerer Ruhe. Auch hier wird zukünftig Eigenleistung zu noch mehr Ruhe führen können.

Wir sprechen in der weiteren Zeit darüber, wie dieses Mehr an Lebensqualität, die ich mit diesen drei Geschenken konkret erfahren kann, aussehen könnte. Konkret geht es um eine Erweiterung meiner Grenzen hin zu mehr Selbstbestimmung.

Jedes Hirn hat quasi seinen ganz eigenen Dopaminbedarfslevel. Und jedes ADHS-Hirn braucht grundsätzlich die immer gleiche Dosis, um diesen Bedarf zu decken. Ich werde mich dennoch nicht jeden Tag mit der einmal gefundenen und festgelegten Dosis gleich gut fühlen. Das Leben ist ja nicht ausschließlich von diesem Mittel abhängig, ich bin immer noch die gleiche Person mit meinen Gewohnheiten und Mustern. Ich werde auch nicht – wie vorher vom Dopaminmangel fremdbestimmt – nun vom Dopamin gesteuert, sondern das Genug an Dopamin ermöglicht es mir, dass ich nun selbst bestimmen kann, welche Gedanken mich beschäftigen sollen und welche Reize ich an mir heranlasse. (Eine der vielen Bedenken, die fast alle ADHSler*innen haben, bevor sie sich auf das eine oder andere Mittel einlassen, ist die Angst vor Fremdbestimmung durch das Medikament. Genau das Gegenteil ist der Fall, wie ich schon nach kurzer Zeit bestätigen kann.)

Meine Aufgabe besteht nun darin, mich mehr und mehr selbst zu steuern. Ich kann mir neue Ziele setzen, ich kann mich ausbreiten, neue Wünsche formulieren, mir das Leben wie ein Büffet vorstellen, aus dem ich mich bedienen kann. Innerhalb meiner Persönlichkeit habe ich nun viel mehr Spielraum. Doch das muss ich erstmal begreifen. Und lernen. Die Muster, die ich mir wegen meiner ständige Begrenztheit/Eingeschränktheit angeeignet habe, müssen definiert und durch neue Muster ersetzt werden. Das ist eine Art Neukonditionierungsprozess, der mir dabei hilft, mich selbst zu steuern, mehr Selbstbestimmung leben zu können.

Schließlich sprechen wir über die Einnahme des Mittels und sie empfiehlt mir, das Mittel recht bald nach dem Aufstehen einzunehmen. Später werde ich es nach Gusto nehmen können, doch jetzt ist wichtig, dass ich die Kurve beobachten kann. Der erste Peak ist nach einer Stunden, der zweite nach vier.

Als ich die morgendlichen Schwindel während der beiden letzten Vormittage erwähne, vermutet sie, dass ich ein Zuviel von Dopamin haben könnte, da mein Partner bei mir ist. Der Körper stellt ja auch eigenes Dopamin zur Verfügung, das allerdings im ADHS-Hirn in der Regel kaum ausreicht. Wohlfühlmenschen können offenbar als Dopamin-Booster wirken, und vielleicht wird dadurch dann zu viel Dopamin frei. (Wenn eine neurotypische Person das Mittel nimmt, erlebt sie es oft als eine Art Rauschzustand.) Das ist aber erst einmal eine These, die noch weiter beobachtet werden muss.

Ebenfalls muss beobachtet werden, ob die Pickel in meinem Gesicht tatsächlich vom Focalin kommen.

INFO: Diesen Text habe ich im November 2023 geschrieben.


Teil 1
Teil 2
Teil 4

Fortsetzung folgt

Vorurteile betreffend #ADHS

[Disa] Ich bin umgezogen und habe mir durch die ganze Schlepperei und Heberei das Iliosakralgelenk blockiert. Hexenschuss hoch drei. Krasse Schmerzen und meine Hausärztin war ausgerechnet jetzt in den Ferien. Nach der Entblockierung vor nun zwei Wochen, sonntagnachts in der Notaufnahme, ging es zuerst nur in Minischrittchen weiter. Nächtliche Schmerzen zwangen mich zu Wanderungen durch die Wohnung. An Liegen war nicht zu denken.

Am Anfang, als ich mit der Einnahme großer Mengen Schmerzmittel, begonnen hatte, setzte ich zudem mein ADHS-Mittel drei Tage aus, da ich die Ärztys vergaß zu fragen, ob Methylphenidat (MPH) mit Schmerzmitteln kompatibel ist. (Ja, ist es, wie ich inzwischen weiß.)

Da ich die Schmerzen am meisten beim Liegen und Sitzen spürte, musste ich mich ständig bewegen. Ich kam nicht zur Ruhe, weder tags noch nachts. Totale Übermüdung.

Und dies alles an den ersten allerkrassesten Tagen ohne MPH. Nicht gut, gar nicht gut. Wie ich schon kurz nach Einnahmebeginn, damals, vor neun Monaten, feststellte, macht mich MPH nämlich ein bisschen weniger schmerzempfindlich. Oder gelassener im Umgang mit Schmerz. Unter anderem.

Die Heilung konnte erst einsetzen, als ich vor zehn Tagen ein Muskelrelaxans bekam und wieder einige Stunden am Stück schlafen konnte. Als das Muskelsystem, das verspannt und verklebt war, durch die Ruhe (und durch Physiotherapie, Massage und Medikamente) wieder besser durchblutet wurde.

Der Schlafentzug war – neben den Schmerzen – eine Hölle für sich. Nicht mehr abschalten zu können, kenne ich ja schon aus früheren Lebensphasen, ebenso Schlafstörungen. Aber wirklich über längere Zeit nur etwa drei oder vielleicht vier Stunden zu schlafen, ohne jegliche Tiefschlafphasen, war dermaßen grenzwertig, dass ich fast verzweifelte. Dass ich es nicht ganz tat, verdanke ich meinem Medikament. Auch dass es mir allmählich gelang, den Fokus vom Schmerz auf die hoffentlich wieder schmerzfreie Zukunft zu richten.

So langsam werden die Schmerzen weniger und ich kann wieder Dinge tun – die Wohnung weiter einrichten zum Beispiel. Doch muss ich gut aufpassen, dass ich nicht gleich wieder zu heftige Dinge tue.

Inzwischen schlafen ich wieder drei bis vier Stunden am Stück, erwache ein- bis zweimal die Nacht und vor allem träume ich wieder.

Wie erholsam das ist! Wie sehr ich es genieße!

Heute Nacht hatte ich einen sehr spannenden Traum, den ich gern mit euch teilen möchte:

Den Kontext habe ich leider größtenteils vergessen. Ich saß in einem Gespräch mit einer Person, die mich noch nicht kannte und es ging darum, dass sie mich kennenlernen wollte. Ich erklärte ihr, dass ich ADHS habe und dass ich Medikamente nehme, um meinen Alltag und mein Leben besser handhaben zu können.

Im Traum hatte ich zuvor ein ziemlich dramatisches Abenteuer mit teils lebensgefährlichen Augenblicken gut überstanden und besonnen reagiert – auch dank der Medikamente, wie ich zu einer anderen, am Drama beteiligten Person gesagt hatte.

Die andere Person, mit der ich jetzt sprach, sagte sinngemäß, dass ich diese Medikamente doch gar nicht wirklich benötigte. Ich sei doch so eine eloquente Person, so dies und so das und überhaupt … Man merke mir das ADHS so gar nicht an.

Das war die Stelle, an der ich aufwachte. Ich war einmal mehr empört über die Vorurteile, die viele Menschen gegenüber ADHS und ADHS-Medikation haben. Und über die Frechheit, sich eine Wertung anzumaßen.

Nicht, dass ich nicht eloquent wäre (manchmal bin ich es tatsächlich, egal ob mit oder ohne Medikamente), aber es geht doch überhaupt niemanden etwas an, darüber zu befinden, ob eine sich durch Medikamente Unterstützung holt, um in einer neurotypischen Gesellschaft nicht ständig anzuecken und unter die Räder zu kommen.

Und jetzt werde ich ein paar leere Kisten plattmachen und in den Keller bringen. Schön, dass ich das jetzt wieder kann.

Reisevorbereitungen mit #ADHS – Teil 2

[Sabrina] Ich hatte vor einiger Zeit ja hier schon etwas zu meinen Reisevorbereitungen geschrieben. Nun steht die Reise kurz bevor und ich möchte noch ein kleines Update geben.

Da ich nicht herausfinden konnte, welche Dokumente ich für Grönland und die Faröer-Inseln brauche, um meine Medikamente mitnehmen zu dürfen, habe ich mich letztendlich mit einer E-Mail an die Dänische Botschaft gewendet. Tatsächlich bekam ich ein paar Tage später eine Antwort in der mir mitgeteilt wurde, was ich bei für mich verschriebenen BTM zu beachten habe. Von einem speziellen Formular oder einem bestimmten ärztlichen Nachweis war allerdings nicht die Rede. Interessanterweise gibt es für Grönland und für die Faröer-Inseln unterschiedliche Regelungen. Nach Grönland darf ich meine Medikamente für maximal 30 Tage mitbringen, für die Faröer-Inseln für die Dauer meines Aufenthalts plus 2 Tage.

Mit diesen Informationen habe ich mich dann entschlossen lediglich das Schengen-Formular mitzunehmen. Aber auch das war schon eine kleine organisatorische Herausforderung.

Formular online suchen – das ist einfach. Dann wollte ich das Formular schon am Rechner soweit wie möglich ausfüllen, damit beim Arzt nur noch Stempel und Unterschrift drauf müssen. Das offizielle Formular vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat zwar entsprechende Formularfelder, ist aber leider schreibgeschützt. Nach einiger Suche bei verschiedenen Gesundheitsämtern etc. habe ich dann eins gefunden, das sich am Rechner ausfüllen ließ und wo auch nicht irgendwelche Daten der (für mich falschen) Behörde aufgedruckt waren (leider habe ich mir nur das Formular und nicht den Link gespeichert, sonst könnte ich euch die Suche ersparen …).

Einen passenden Termin beim Neurologen hatte ich zum Glück schon, und der Termin beim Gesundheitsamt liess sich auch recht einfach telefonisch vereinbaren.

Beim Neurologen hatte ich gehofft, das vorausgefüllte Formular sofort wieder mitnehmen zu können. Der Arzt wollte es sich aber in Ruhe durchlesen, bevor er es unterschreibt. Also habe ich mit der MfA abgesprochen, dass ich Freitag nochmal vorbeikomme und alles abholen kann.

Freitag bin ich also wieder knapp 30 Minuten mit dem Auto zur Praxis gefahren, wo das Formular zwar unterschrieben und abgestempelt im Computer abgelegt war, das Original aber zunächst unauffindbar, genauso wie das bestellte und vom Arzt genehmigte zweite Rezept für meine Medikamente, damit ich nicht kurz vor der Reise noch einmal hin muss (die grösste Packungsgrösse sind 30 Stück und wir sind 24 Tage unterwegs). Mein Neurologe war zu allem Überfluss schon im Urlaub. Stress pur, Diskussionen, am Ende habe ich über eine Stunde in der Praxis verbracht bevor ich alles zusammen hatte. Diesmal hat die Praxis auch 10 € Gebühren für das Formular genommen. Zeitaufwand über 2 Stunden und ich war anschliessend erstmal fix und fertig.

Der Termin beim Gesundheitsamt verlief dann zum Glück problemlos. Nach nicht mal einer Stunde (inklusive Fahrtzeiten) war ich wieder zu Hause mit den passenden Stempeln. Ich habe der zuständigen Mitarbeiterin auch die E-Mail der Dänischen Botschaft vorgelegt und wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass das Schengen-Formular wohl ausreichend ist. Auch hier waren nochmal 10 € Gebühren fällig.

Alles in allem hat mich die ganze Geschichte mehrere Stunden Recherche am Computer gekostet, gute 3 Stunden Zeitaufwand um alle Unterschriften und Stempel zu bekommen und 20 € an Gebühren für das ganze Theater. Nur weil ich ADHS habe und auch im Urlaub nicht auf meine Medikation verzichten möchte.

Jetzt ist zum Glück alles erledigt und die Vorfreude auf die Reise steigt mit jedem Tag!

Wenn ich zurück bin, werde ich noch einmal kurz berichten, ob sich irgendjemand für meine Medikamente oder den Papierkram interessiert hat.

Was bei #ADHS helfen kann | Medikamente nehmen Teil 2

[Disa] Am Anfang dieser Sitzung bitte ich darum, das von mir gehasste Händeschütteln wegzulassen. Für Dr. ADHS kein Problem. Ich stelle fest, dass ich allmählich mehr zu meinen Bedürfnissen stehen kann. Das ist nur ein kleines Beispiel von vielen positiven Auswirkungen meiner späten ADHS-Diagnose.

Dr. ADHS fragt, ob ich zur generellen Wirksamkeit der ADHS-Medikament bezogen auf die Hirnaktivität – also was wir in der letzten Sitzung angeschaut haben – noch Fragen habe. Ich fasse kurz zusammen, was ich verstanden habe. Mich interessiert vor allem, welches die für mich richtige Dosis ist und welches Mittel zu mir passt. Ich habe keine Ahnung, wie das Eindosieren funktioniert, kenne nur das Vorgehen bei Antidepressiva, wo wöchentlich oder auch täglich ein bisschen mehr genommen wird. Als zweites stelle ich die Frage, ob denn ein Dopaminmangel, wie ich ihn ja offenbar habe, verantwortlich für Depressionen sei.

Auf die erste Frage antwortet sie, dass dem nicht so sei. Ich werde nicht einfach jeden Tag ein wenig mehr nehmen, denn das Medikament schaffe ja keinen Spiegel. Wie genau die richtige Dosis erkannt werde, erkläre sie mir später.

Zur zweiten Frage sagt sie, dass nicht Dopamin- sondern Serontoninmangel für Depressionen verantwortlich sei. Das seien, wie wir schon früher mal besprochen haben, Antagonisten. Während allerdings die Gabe von Dopamin das Serontonin nicht groß beeinflusse (allenfalls könnte die Zwangsstörung stärker werden), könne es umgekehrt bei Serontoningabe der ADHS-spezifische Dopaminmangel noch verstärkt werden. (Ich meine mich tatsächlich zu erinnern, dass ich, während der AD-Phasen noch hyperiger/gespeedeter gewesen bin. Hm. Oke. Interessant. Das mal im Kopf behalten.)

Schließlich holt Dr. ADHS einen selbstgemalten Vordruck, worauf sie mir die Wirksamkeit der vier für mich am Anfang zur Auswahl stehenden Medikamente demonstriert. Es sind Methylphenidate. Unser Plan ist es, die richtige Dosis zu finden, damit ich mich selbst besser steuern kann und nicht mehr vom Dopaminmangel gesteuert werde.

Focalin ist das neueste Medikament – nur in der Schweiz und den USA erhältlich – und lässt sich am feinsten dosieren. Gegen Medikinet spricht bei mir, dass ich dazu zwingend frühstücken müsste. Was ich aber ja nicht tue. Respektive meine erste Mahlzeit selten vor 10 Uhr einnehme, eher so um 11-12 Uhr irgendwann. So wählte ich zwischen Concerta und Focalin und entschied mich relativ spontan für Focalin, weil es sich fein dosieren lässt.

Medikamente und Stimulanzien werden in jedem Körper unterschiedlich verstoffwechselt. Je nachdem wie unsere Hirne eben ticken (mir fällt leider der richtige Begriff nicht mehr ein). Da gibt es wohl drei Arten des Verwertungsprozesses: die Schnell-Schnell-Kombi, die Schnell-Langsam-Kombi und die Langsam-Langsam-Kombi. (85 % gehören zur Schnell-Langsam-Kombi, 5 % zur Schnell-Schnell- und 10 % zur Langsam-Langsam-Kombi, wenn ich mir das richtig gemerkt habe.)

Während die Wirksamkeitskurve für alle Benutzer*innen relativ ähnlich ist, ist die Kurve des Ausfadens des Mittels unterschiedlich lang. Je nachdem, wie ich ticke, wird das Mittel früher oder später abgebaut. Bei Focalin könne es durchaus zu einem Rebound*-Effekt kommen, heißt wenn das Mittel zu wirken aufhört, kann sich der ’frühere Normalzustand’ schwieriger als sonst anfühlen.

Was ADHS-Medikamente von anderen (z. B. Schmerz-)Mitteln unterscheidet, ist, dass die Wirkung der eigentlichen Stimulanz nebensächlich ist. In zu hoher Dosis verabreicht wirken ADHS-Medikamente wie Drogen, sie machen wach, appetitlos, aufgedreht, was allerdings weder zentral noch erwünscht ist; diese Wirkungen kommen nur bei zu hoher Dosis vor. Genau darum ist es so wichtig, die genau richtige Dosis herauszufinden.

Ich soll drei Tage nacheinander morgens je eine 5 mg-Kapsel Focalin (was 10 mg MPH entspricht) einnehmen, bevor ich große Denk- und Arbeitsleistung erbringe, und genau beobachten, wie es wirkt. Wann es wirkt. Was genau passiert. Danach soll ich zwei Tage kein Mittel nehmen und mich auf die Unterschiede konzentrieren. Schließlich alles protokollieren und ihr, Dr. ADHS, mailen, was ich dabei erlebt habe. Sie werde auf meine Beobachtungen reagieren und mir umgehend Anweisungen geben, wie ich weitermachen solle.

Für mich klingt das alles ziemlich unheimlich, gruselig … dennoch möchte ich herausfinden, wie es sich anfühlt, wenn im Kopf so etwas wie Ruhe ist. Und wie es sich anfühlt, wenn ich die Dinge selbst steuern kann. Selbst entscheiden, worauf ich mich einlassen und konzetrieren will und nicht, wie eben vorhin erlebt, gleichzeitig Dinge wahrnehmen, schreiben, Bilder bearbeiten, eine Mail beantworten, mit Freundinnen chatten … und für alles immer nur halbe Konzentration aufbringen.

Doch jetzt gehe ich erstmal in die Apotheke und hole mir meine erste Schachtel Focalin. Morgen fängt das neue Leben an. Oder so. Puh.

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INFO: Diesen Text habe ich im Oktober 2023 geschrieben. Seither hat sich für mich dank Focalin vieles zum Besseren gewendet.


*Der Begriff Rebound oder Absetzeffekt (von engl. rebound ‚Rückprall‘) bezeichnet in der Medizin das verstärkte Wiederauftreten von Symptomen einer medikamentös behandelten Erkrankung nach Absetzen der Arzneimittel.

Teil 1
Teil 3
Teil 4

Fortsetzung folgt

Mein #ADHS-Coaching Teil 4

Teil 4: Wie wir Pläne realisieren können | Gedanken- und Impulssteuerung

[Disa] Das war eine richtig gute Sitzung diese Woche. Wir kommen nach kurzen Smalltalksätzen recht schnell zur Sache. Ich erzähle, als sie fragt, was ansteht, von meinem Umzug (innerhalb meines Orts) in wenigen Wochen und wie ich mir dank meines neuen Tools Zenkit* sinnvolle Listen und Wochenpläne erstellt habe; wie das Planen, worüber wir in den letzten Sitzungen gesprochen haben, so langsam bei mir zu funktionieren beginnt und mir tatsächlich beim Leben hilft; wie mir das Medikament fühlbar beim Priorisieren-Können hilft; wie ich endlich Filtern, Wichtiges und Unwichtiges auseinanderhalten kann. Und – sehr spannend! – wie ich feststelle, dass das in den letzten Monaten an neuen Strategien Trainierte, Gelernte, Verstandene sogar greift, wenn ich das Medikament nicht genommen habe. Wie bei meinen früher erlebten Verhaltens- und Traumatherapie‘erfolgen‘ sozusagen.

Diese Erkenntnis greift Dr. ADHS auf und bestätigt, dass das im Idealfall tatsächlich so sein sollte: Also dass ich mein neues Know-How tatsächlich integrieren kann. (Während ich das hier schreibe, überlege ich, wie es wohl wäre, wenn ich langfristig das Medikament nicht mehr nehmen würde, sprich: ob ich die neuen Strategien wieder verlieren würde?)

Ich erzähle, dass ich an den Tagen, an denen ich sehr früh erwache und mich die Umzugssorgen und -überlegungen gleich vom ersten Gedanken bannen und ich darum nicht wieder einschlafen kann, angefangen habe, mein redartiertes MPH-Medikament früher als sonst und in zwei Portionen aufgeteilt zu nehmen. Normalerweise nehme ich es zwischen 8:15 und 9:15, kurz nach dem Wachwerden. Bei mir hält die dopaminrelevante Wirkung etwa 8 Stunden und die Wirkung der Stimulanz (das Wachmachding) etwa 10 Stunden.

Wenn ich das Mittel jedoch bereits um 7:15 nehme, reicht die Wirkung, so meine Überlegung, nicht wirklich bis am Abend und ich bin an solchen Tagen zu früh müde und überhaupt werden solche Tage zu lang für die mir zur Verfügung stehende Energie (was allerdings noch andere Gründe hat). Wenn ich das Mittel an frühwachen Tagen aber erst um 8:15 nehme wie normal, obwohl ich schon ab 7:00 Kopfarbeit verrichte, bekommt mir das nicht gut, denn dann habe ich schon einen Rucksack auf dem Rücken und das Dopamin kommt zu spät und wirkt nicht wirklich so, wie ich es brauche. Es klebt sozusagen oben drauf, weshalb ich die Idee, die Dosis zu teilen und eine Dosis früher zu nehmen, wie es andere aus meiner virtuellen Blasen tun, aufgenommen habe.

Dr. ADHS hört mir zu und fragt, ob ich in den ersten Stunden denn einen Benefit habe, da ich in dieser Phase ja nur die halbe Kraft des Filters zur Verfügung hätte. Ich stelle die oben schon erwähnte Frage, ob es denn sein könne, dass ich manche gelernte Dinge inzwischen auch ohne genug Dopamin hinbekommen könne. Was sie bejaht, denn letztlich sei das Coaching eine Art Verhaltenstraining (siehe oben). Die ersten Stunden bis zur Einnahme der zweiten Hälfte des Mittels arbeite ich also – vorausgesetzt wir haben für mich die richtige Dosis herausgefunden – mit halber Dopamindosis-Hirnleistung und mit halber ADHS-Hirnleistung. Geht aber und ist, jedenfalls für mich, besser als es später zu nehmen.

Dr. ADHS zeichnet eine Skizze zur Veranschaulichung. Da ist die berühmte x/y-Zeitachse und als Wellenlinie darüber, parallel zur Zeitachse, meine gefundene Idealdosis. Wenn ich diese halbiere (hier malt sie einen roten Klotz), stehen mir am Anfang eben nur die Hälfte der Dopamintransporter zur Verfügung, wenn ich später die zweite Hälfte nehme, werden diese – da es ja während der Wirkzeit der ersten Dosis passiert – aufaddiert und ich verlängere tatsächlich meine Wirkzeit-Länge. »Irgendwie schlau«, sagt Dr. ADHS lächelnd, und ich weiß nicht, ob sie meine Strategie, die ich von anderen Betroffenen abgeguckt habe, nicht kannte oder ob sie einfach nur von Fall zu Fall über solche Möglichkeiten spricht, die vielleicht eben nicht für alle passen.

Wir sprechen in diesem Kontext nun darüber, wie lange mich die Stimulanzwirkung wach macht und ob das vielleicht mein Einschlafen beeinflussen könnte. Doch da ich eh nie vor 22 Uhr ins Bett gehe, bin ich fast sicher, dass ich die zweite Dosis problemlos bis um 12 Uhr nehmen kann.

(An den Tagen nach der Sitzung probiere ich es mit Zweidrittel- und Eindrittel-Dosen und stelle fest, dass das noch ein bisschen besser ist als halb/halb. Das ist, wie alles, was ich hier schreibe, allerdings nur meine persönliche Erfahrung.)

Nun kommen wir auf das Planen unter Umzugsbedingungen zu sprechen. Ich erzähle davon, wie mein Hirn, sobald es wach ist, zu arbeiten, zu packen, zu planen anfängt. Dass ich Dinge, die ich später zu tun gedenke, zuerst im Kopf mache, mir buchstäblich das WIE vorstelle. Bilder abnehmen, Bilder nach Größe sortieren, in Decken wickeln. In Kisten verpacken. So und so, die und die Handgriffe. Schließlich Kisten nummerieren und anschreiben und in die Zenkit-Liste eintragen. Alles sehr kleinteilige, sehr stringente Abläufe. Ich erinnere mich, dass ich das so ähnlich zwar immer schon gemacht habe, meine aber, dass ich jetzt in längeren und detailllierteren Abläufen denken kann.

Doof daran und absolut nicht neu ist, dass ich mich tendenziell in Gedanken, die sich in wiederholenden Endlosschleifen drehen, verfange – zumal ich frühmorgens beim Wachwerden ja noch keine zusätzlichen Dopamintransporter intus habe. Sie legen los, sobald ich wach bin und in der Wohnung herumgucke. Was mir fehlt, ist eine Strategie, um meine Gedanken besser steuern zu können. Nicht nur jetzt, wo der Umzug so viel Energie braucht.

Die erste Übung, mir via Planung neue Handlungsabläufe und Verhaltensweisen anzueignen, habe ich inzwischen drauf und in den letzten Wochen geübt. So ziemlich. Jedenfalls theoretisch. Nennen wir das »Handeln, wann?« oder schlicht Planen. Tatsächlich sind aus neuen vertraute Abläufe geworden.

Bei der nächsten Übung geht es nun also darum Impulse, Denken und Handeln selbst zu steuern, statt ihnen ausgeliefert zu sein. Sie in konkrete Abläufe, in ein konkretes »Wie?« zu überführen. (Das betrifft nun den Präfrontalen Cortex, der, wie ich in früheren Sitzungen gelernt habe, für die Gedankensteuerung zuständig ist.) Gedanken sind in erster Linie Impulse. Impulssteuerung heißt zum Beispiel, dass ich Gedanken, wenn sie kommen, verschieben kann, etwas anderes denken.

Wenn ich – als Beispiel – den Gedanken, wie ich die Bilder einpacken werde, einmal zu Ende gedacht habe, ihn, wenn er ein zweites Mal auftaucht, nicht mehr weiter denken muss, weil ich ihn zu steuern gelernt habe. Dabei hilft es ganz praktisch, ihn auf einer Liste zu vermerken und/oder ganz bewusst etwas anderes zu denken, damit im Hirn wieder Platz für etwas anderes ist. Listen können Gedanken auslagern.

In mir drin klingt das nach einem riesigen unüberwindlichen Das-geht-doch-gar-nicht!, denn in meinem Leben habe ich das ja schon oft probiert. Doch habe ich es wirklich schon richtig probiert, seit ich das Medikament nehme? Nein. Nicht so richtig. Ich werde es jedenfalls als nächsten Übungspunkt angehen. Beobachten, ob es funktioniert. Beobachten, ob ich meine Skepsis überwinden kann. Beobachten, warum und wann es geht oder nicht.

In den Tagen seit der Sitzung versuchte ich, Gedanken, für die ich gerade den Nerv nicht habe, zu verschieben. Dabei helfen mir Vorstellungen – wie das Schließen eines Browsertabs – oder konkretes Swichen/Umdenken. Ich nenne es für mich die Mentale-Hängematte-Aufhängen. Ich übe und beobachte und bin echt gespannt, ob und wie ich dieses WIE schließlich in den Alltag integrieren kann. Es ist aus meiner Sicht gerade eine High Level-Herausforderung.

Apropos Level: Ich habe neulich einen Podcast* gehört, bei welchem die Unterschiede zwischen Neurodiversität und Neurotypie unter anderem mit dem Spielen eines Handyspiels erklärt werden. Beide spielen wir das gleiche Spiel, doch das erste Level der Neurodiversen ist von Anfang an höher als das erste Level von Neurotypischen. Wenn Neurotypische sagen »Das ist ja ganz einfach, dieses erste Level, ich weiß nicht, was du hast!«, verstehen das Neurodiverse nicht, denn es ist ganz und gar nicht einfach, dieses erste Level. Dr. ADHS findet dieses Bild sehr anschaulich.

Im Gespräch realisiere ich, dass ich seit Diagnosebeginn bereits ein Jahr mit Dr. ADHS zusammenarbeite und was sich seither schon alles für mich zum Guten verändert hat.


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Teil 2
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Alle Teile

Fortsetzung folgt

*persönliche Empfehlung, keine Werbeeinnahmen

Reiseplanung mit #ADHS

[Sabrina] Ich habe ADHS. Ich nehme seit ein paar Monaten auch ADHS-Medikamente und kann und möchte auch auf Reisen nicht darauf verzichten. Aber was bedeutet das in der Praxis? Meine nächste Reise steht bald an und ich möchte einmal erzählen, was das für uns bedeutet.

(Wichtig: das ist ein reiner Erfahrungsbericht, keine Beratung oder Anleitung!)

ADHS-Medikamente gelten als Betäubungsmittel (BTM) und unterliegen strengen Vorschriften und Auflagen. Das ist im Alltag schon kompliziert genug. Man braucht in Deutschland ein spezielles Rezept, das nur 7 Tage gültig ist. Das bekommt man auch erst, wenn man nur noch für wenige Tage Medikamente zu Hause hat (bei meinem Arzt frühestens eine Woche vorher). E-Rezept geht sowieso (noch) nicht. Ich nehme Elvanse, da sind nur 30 Tabletten in einer Packung. Ich muss also alle 4 Wochen zu meinem Arzt in der Nachbarstadt, um ein neues Rezept zu bekommen. Dabei muss ich ziemlich genau wissen, wann ich die neue Packung brauche, Wochenenden und Feiertage berücksichtigen, und einkalkulieren, dass die Apotheke das Medikament erst bestellen muss und ich es nicht am selben Tag bekomme. Die Öffnungszeiten der Arztpraxis (und der Apotheke) muss ich natürlich auch noch im Auge behalten. Wenn man dann, aus welchem Grund auch immer, Medikamente im Alltag mit sich führt, braucht man am besten noch eine aktuelle Bescheinigung vom Arzt, damit man bei einer Kontrolle nicht in Schwierigkeiten gerät. Das alles ist für neurotypische Menschen wahrscheinlich schon schwierig, für Menschen mit ADHS ist das eine echte Herausforderung, weil es all die Fähigkeiten dazu braucht, die bei uns eingeschränkt sind.

Auf Reisen ins Ausland wird es damit aber so richtig kompliziert. Man braucht ein spezielles Formular, das vom Arzt ausgefüllt und unterschrieben werden muss und dann anschliessend auch noch von einer offiziellen zuständigen Stelle (in Nordrhein-Westfalen ist das das zuständige Gesundheitsamt) beglaubigt werden muss. Ich muss also rechtzeitig vor einer Auslandsreise (aber nicht zu früh) erst das Formular zum Arzt bringen, ein paar Tage später wieder abholen, in der Zwischenzeit einen Termin beim Gesundheitsamt vereinbaren, mit dem aufgefüllten Formular zum Gesundheitsamt fahren, um mir gegen eine Gebühr (bei uns sind das 10 €, aber das ist wohl von Amt zu Amt verschieden) ein paar Stempel auf das Formular drücken zu lassen und dann muss ich natürlich daran denken, das wertvolle Stück Papier auch auf die Reise mitzunehmen. Man braucht so ein Formular auch jedes mal neu, denn es kann nur für maximal 30 Tage ausgestellt werden.

Es geht auch noch komplizierter. Ich reise demnächst mit dem Schiff nach Grönland. An Bord gehe ich in Deutschland, wir machen Zwischenstopps auf Island und den Faröer-Inseln. Für Schengen-Staaten wie Island gibt es ein Formular für diese Zwecke. Nun sind Grönland und die Faröer-Inseln zwar irgendwie auch Dänemark, aber kein Schengen-Mitglied. Als was das Schiff zählt, weiss ich gar nicht, und ob ich für das Schiff überhaupt etwas brauche. Der Reiseveranstalter ist Deutsch, die Reederei, der das Schiff gehört, sitzt auf Zypern, das Schiff fährt unter der Flagge der Bahamas.

Bisher konnte ich noch nicht herausfinden, was ich jetzt alles brauche. Der Reiseveranstalter darf mir diesbezüglich keine Auskunft geben. Beim Gesundheitsamt weiss man es auch nicht so wirklich („Grönland ist zwar nicht Schengen, aber Dänemark, also nehmen Sie einfach das Schengen-Formular“). Und ich sitze hier völlig überfordert. Ich muss wohl die diplomatische Vertretung von Dänemark kontaktieren und hoffen, dass die mir die passende Auskunft für Grönland und die Faröer-Inseln geben können. Ich habe mir sogar schon die Adressen rausgesucht. Bin aber wieder überfordert, ob ich jetzt die Botschaft direkt anschreiben muss oder mich an ein Konsulat wenden muss. Wie ich herausfinden kann ob ich auch noch eine extra Bescheinigung fürs Schiff brauche weiss ich auch nicht. Und jetzt streikt mein ADHS-Gehirn und weigert sich. Stattdessen sitze ich hier und schreibe diesen Blogbeitrag.

Wahrscheinlich werde ich den ganzen Papierkram am Ende nicht benötigen, weil es niemand sehen möchte. Aber falls doch, kann es ohne richtig richtig doof werden. Also bleibt mir nichts anderes übrig das alles durchzuziehen. Irgendwie. Irgendwann. Hoffentlich rechtzeitig.

Ich werde berichten, wie die Geschichte weitergeht.