Leben machen – Teil 25, COVID-19

[Janne]
Am dritten Tag nach dem Transfer habe ich Krämpfe.
Am vierten beunruhigt mich ein blutiger Fetzen auf der Slipeinlage.
Am fünften testen mein Mann und ich positiv auf COVID-19.
Am achten teste ich das erste Mal negativ auf HCG.
Am elften das zweite Mal. Wenige Stunden bevor meine Regelblutung einsetzt.

Mein Mann ist überrascht, dass ich getestet habe. Überrascht, dass ich weiß, dass das Progesteron den Test nicht verfälschen kann. Er ist auch enttäuscht, weint aber nicht mit mir. Dass er etwas fühlt, spüre ich erst, als er mit Herbstblumen zu mir kommt und mich lange wiegend im Arm hält.

Später bearbeite ich das Foto der Zellen. Fertige daraus eine Karte mit Entstehungs- und Abblutungsdatum, die ich meinem Müllmonument beilege.
Es ist die einsamste Beerdigung meines Lebens.

Leben machen – Teil 24, schwanger bis zum Gegenbeweis

[Janne]
Unser Termin ist um 9. Wir sitzen ab halb 8 in der Kliniklobby, weil mein Mann noch arbeiten muss. Während er im Gespräch ist, ribble ich die angefangene Strickjacke für das Baby meiner Fernfreundin auf, lese die E-Mail einer befreundeten Person, die nach 10 gemeinsamen Jahren und 6 Monaten Streit mit mir den Kontakt beendet, und nehme eine Sprachnachricht auf, um diesen Umstand nicht den Tag bestimmen zu lassen.
Denn heute werde ich schwanger aus der Klinik nach Hause gehen.
Schwanger, bis das Gegenteil bewiesen ist.
Ich bemühe mich um Freude. Versuche, mir meinen Körper als guten Ort für die 6 bis 8 Zellen, die mein Embryo jetzt an seinem dritten Tag ist, vorzustellen. Eine dunkelrote, körperwarme Höhle voller weichem Flausch, so würde ich das Innere meines Uterus aktuell malen.

5 vor 9 schließt mein Mann den Laptop. Ich bin verärgert. Er weiß, dass es mich stresst, wenn wir nicht sicher pünktlich irgendwo sind. Es ist ihm egal. Er macht Witze. Schafft Abstand. Ich lasse ihn. Dieser Tag ist auch ihm nicht gewidmet.
Die laborierende Ärztin zeigt uns unsere Zellen auf dem Monitor ihres Computers.
Von den 5 befruchteten Eizellen hat nur eine die Entwicklung zum gesunden Embryo geschafft. Die anderen sind unregelmäßig gewachsen oder bereits im Sterbeprozess. Wir können keine einfrieren.
Sie darf uns die Bilder nicht schicken. Keinen USB-Stick an ihren Rechner machen. Ich fotografiere den Bildschirm ab und bin traurig, weil ich weiß, dass ich das Pixelmuster des Bildschirms nicht ohne Qualitätsverlust am Motiv retuschieren kann.
Und wieder biege ich aktiv in den Versuch ab, mich zu freuen.

Diesmal habe ich keine sedierenden Medikamente im Körper.
Auch diesmal ist es kein „kurzes Zwacken“, als die Ärztin meine Cervix erweitert, um den Katheter für den Embryonentransfer einzuführen. Es ist ein durchdringender Schmerz, über den ich unwillkürlich zusammenzucke und komplett verkrampfe. Mein Mann drückt meine Hand noch fester. Ich will gar nichts mehr fühlen.
Die Ärztin bezeichnet den Katheter als „Rutsche“ für den Embryo. Als sie ihn überträgt, stelle ich mir vor, wie er in meinem dunkelroten Gebärfloof landet.

Ich freue mich nicht. Ich bin nicht glücklich. Ich bin erleichtert, als ich mich anziehen und nach Hause fahren kann. Da, wo mein Mann sein Ding machen und ich für mich allein herausfinden kann, wie es mir wirklich geht.
Die nächsten Tage sind einsam für mich, obwohl ich mit allen über alles reden kann. Nur nicht über meine  ichfremden Gefühle. Meine autistische Reiz- und Grenzerfahrung. Ich bin jetzt schwanger. Theoretisch. Muss mich verhalten, als wäre ich schwanger, ganz praktisch.

Jeder Aspekt in meinem Leben verändert seine Natur. Verwirrt mich, beunruhigt mich, erfordert ständige Wiedereinordnung. Ich muss mich mit allem vertraut machen, als hätte es mich in dieser Welt noch nie gegeben.

Leben machen – Teil 23, Ernte

[Janne]
Mein Mann ärgert sich über den Terminzeitpunkt, weil er seine Arbeit durcheinanderbringt. Ich schäme mich und bringe einige Kraft dafür auf, mich dennoch zu freuen. Meine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Bewusst bei der Sache zu bleiben. Die Sache, das ist die Punktion. Der Eingriff mit langer Nadel und leichter Betäubung. Die Ernte meiner Follikel.
Es ist kein „kurzes Ziehen“, kein „kleines Pieken“ und auch nicht „gleich vorbei“. Die Medikamente nehmen mir wahrscheinlich viel Schmerz ab. Trotzdem sind Druck, Schmerz und Scham die beherrschenden Empfindungen für mich zu diesem Zeitpunkt.

Mein Mann ist nicht da, er muss zum Ejakulieren woanders hin. Erst als es vorbei ist und ich mit einem Laken bedeckt auf der Liege zur Ruhe kommen soll, kann er reinkommen. Da weiß ich schon, dass mir 8 Zellkomplexe entnommen werden konnten.

Was die Medikamente auch machen, ist, dass ich meine emotionale Aufgewühltheit nicht versprachlichen kann. Sie versackt in einem zähen Nimbus und beraubt mich meiner Möglichkeit, die Lage eigenständig abgleichen zu können.
Ich bleibe geistig auf der Oberfläche. Bin unfähig zur Einordnung von Umständen. Unfähig zu bestimmen, wie ich die Situation gerade finde.
Doch als wir im Wartezimmer sitzen, mein Mann auf der Stuhlkante, weil sein nächster Termin drückt, bemerke ich eins ganz deutlich: Ich habe keine Angst.
Mein Körper initiiert einfach weder das Rauschen im Ohr, noch den Druck im Hals, noch den Zug im Bauch und den zarten Wasserfilm auf Händen und Oberlippe, den ich üblicherweise registriere, wenn ich nicht weiß, was passieren wird.
Ich bin mir in dem Moment selbst massiv fremd. Erlebe das informative Nachgespräch nicht so, als würde es um mich gehen. Die Anweisungen nehme ich entgegen wie einen Auftrag auf der Arbeit. Nicht für mich, sondern für die Sache.

Unsere Zellen kommen im Labor zusammen.
Am nächsten Tag teilt uns die Ärztin mit, dass aus den 8 Zellkomplexen 5 reife Eizellen gewonnen werden konnten. Alle wurden erfolgreich befruchtet.

Leben machen – Teil 21, Grenzübertritte

[Janne]
Es fühlt sich falsch an. Nach illegalem Drogenhandel, Fakeseiten-Moloch und Betrugsgefahr. Ich scanne meine beiden blauen Rezepte ein und sende sie per E-Mail ins Ausland. Zweimal lade ich sie sogar direkt über einen Uploadlink, wer weiß wohin.
Wahrscheinlich macht Frau Baum, meine Apothekerin, genau das Gleiche, wenn sie meine Asthma- und Allergiemedikation für mich bestellt. Auslandbestellungen für Medikamente sind nichts Besonderes.
Für mich aber schon. Ich finde das alles komisch. Der ganze Ablauf ist mir suspekt. Und als die große, kühle Kiste bei mir zu Hause ankommt und ihr Inhalt wie ein Schatz wirkt, weil ihr Inneres mit silbern reflektierender Folie ausgekleidet ist, komme ich völlig aus dem Konzept.

Es sind 11 Schachteln. Einige groß, manche kleiner. Es sind sehr viele Einmalspritzen dabei, die meisten werde ich gar nicht verwenden. Ich lerne das Konzept des Injektionspens kennen und ziehe die Nase raus, als hielte ich einen verotteten Fisch in der Hand. Ein dicker Kunststoffmantel, der eine Feder zum Aufziehen der Injektionslösung im Inneren hat. Die sehr kurze Nadel ist doppelt in Kunststoff verpackt und muss aufgeschraubt werden. Umständlich und unpraktisch erscheint mir das. Ich verstehe den Aufstand nicht, habe außer der französischen Beipackzettellage aber auch nichts zum Nachlesen. Und dann ist es mir letztlich auch egal. Vielleicht haben wir genau dafür, für Protzpens und Massenmüll, einfach bezahlt. Vielleicht ist das so ein edles Spezialzeug, bei dem alles darunter schäbig wäre.

Meine Freundin ist zu Besuch, als die Lieferung eintrifft. Ohne ihre Hilfe hätte ich den Abgleich mit dem Rezept nicht geschafft. Die Namen der Medikamente sind unterschiedlich, bei einem auch die Dosierung. Wir brauchen 20 Minuten, um zu bestätigen, dass alles vom Rezept auch da ist. In der Ortsapotheke hätte mir dafür jemand böse Blicke zugeworfen.

Am nächsten Morgen ist der dritte Tag meiner vielleicht letzten Blutung in diesem Jahr. Wir fahren in die Klinik für eine Blut- und Ultraschalluntersuchung.
Während mein Mann den Spritzplan für die nächsten Tage studiert, betrachten meine Ärztin und ich meinen abblutenden Uterus und zählen im Anschluss die kleinen Pünktchen, aus denen eventuell Follikel reifen könnten. „4 bis 5“ schreibt sie auf.

Wir verlassen die Klinik mit einem neuen dicken Stapel voller Aufklärungs- und Erklärungszettel. Am Abend setze ich mir die ersten beiden Spritzen im Waschraum neben dem Zeltplatz des Festivalgeländes, auf dem ich die nächsten drei Tage unterwegs bin. Ich sammle meinen Müll im Zelt, um mein Handeln privat zu halten. Beim Abbau aber entscheide ich, doch nur die Spritzen aufzuheben.
Diese kleinen Plastikinjektile markieren mir einen Grenzübertritt.
Einen Meilenstein.
Es ist ein absurdes Müllmonument. Fragment einer Materialschlacht, die egoistischer kaum motiviert sein kann. Wie meine Schwangerschafts- und Ovulationstests. Die alle längst mit Feuer zu CO₂ recycelt worden sind und keinerlei Funktion als Wegpunkt auf dieser Kinderwunschreise mehr haben können. Und mich auch nie penetriert haben, wie diese Spritzen. Bisher hatte meine Kinderwunschbehandlung immer einen gewissen Abstand von meinem Alltag. Der ist jetzt übertreten und es ist mir wichtig, diesen Schritt sehr bewusst zu haben. Vor allem als klar wird, dass mein Mann unseren einzigen gemeinsamen Urlaub in diesem Jahr mit Arbeit und unverschiebbaren Terminen voll hat und schon zwei Wochen vorher erwähnt, wie unangenehm ihm ist, auf Kommando ejakulieren zu müssen. Wir haben beide mit Grenzübertritten zu tun. Aber meiner hinterlässt Zeugen aus Kunststoff.

Leben machen – Teil 20, Alter

[Janne]
„Mit 40 setzt man auch keine Kinder mehr in die Welt.“ An diesen Instagram-Kommentar denke ich, als ich die Kostenübernahmeerklärung für eine individuelle Gesundheitsleistung lese. Die Leistung: die Kryokonservierung von Eizellen bzw. Embryonen. Für ein Jahr, es sei denn, ich werde vor Ablauf des Jahres 45.
Meine Eizellen und meine Chancen auf Kinder werden dann vernichtet. Meine Unterschrift darunter soll mein Einverständnis symbolisieren. Ein Einverständnis, das ich nicht habe.

Mein Mann und ich möchten nicht, dass unsere Embryonen, so welche entstehen und nach Ende unserer Familienplanung übrig bleiben, als medizinischer Gewebemüll in einen Ofen kommen. Wir werden uns entsprechend beim Netzwerk Embryonenspende e. V. melden und sie zur „Adoption“ freigeben. Unsere Chance soll, wenn nicht für uns, dann wenigstens für andere mit noch viel schwierigerer Ausgangssituation bestehen bleiben.

Die Frage, die davon unbeantwortet bleibt, ist: Wann?
Ich wünsche und plane, seit ich 21 Jahre alt bin. Ich war damals eine unerkannt autistische Person mit komplexen Baustellen im Leben. Der Kinderwunsch gab mir eine sehr klare Struktur vor, was ich wie dringend hinkriegen muss, um verantwortungsvoll Elter zu werden. Daran habe ich meine gesamte Lebensgestaltung orientiert und meine Arbeit an mir ausgerichtet.
Erst mit Anfang 30 treffe ich meinen Mann und habe sowohl beruflich als auch in mir selbst alles geordnet. Er weiß von meinem Kinderwunsch, doch schiebt das Thema weg. Wir haben uns ja gerade erst kennengelernt. Als ich ihm sage, dass ich gehen muss, wenn er nicht an Bord ist, wird klar: Das Wegschieben hatte auch andere Gründe als das junge Beziehungsgeflecht. Er braucht Zeit.
Dann kommt Corona. Daran stirbt er mir fast weg. Als er nach Genesung und innerer Arbeit mit sich bereit ist, bin ich 36. Wir erfahren zwei Monate vor meinem 37. Geburtstag, dass es bei ihm Probleme gibt.
Jetzt, wo die Hormone des kurzen IVF-Schemas in mir wirken, bin ich 38 und frage mich, ob ich mir nicht lieber gleich zwei Embryonen einsetzen lassen sollte, um direkt eine Chance auf zwei Kinder zu haben. Dann wird alles scheiße, weil kein*e Zwillingsschwangere*r in Ruhe gelassen wird, aber ich habe die mindestens zwei Kinder, die ich mir im Leben wünsche. Und keinen Zeitdruck mehr, meine Familienplanung zu beenden, damit niemand mit ansehen muss, wie ich als olle 60-Jährige*r meinen 20-jährigen Kindern beim Umzug helfe, durch Liebeskummer tröste oder was weiß ich was für sie mache, weil ich ihr Elter bin.

Ja, biologisch wird es hart mit Mitte 40, weiß ich alles. Vielleicht habe ich auch keine Lust mehr, in dem Alter noch schwanger zu werden.
Aber was, wenn doch? Was, wenn ich dann einfach noch nicht fertig bin? Wenn ich statt einem doch lieber, zwei, drei, vier, fünf Kinder im Leben haben möchte? Wenn ich so über meinen Körper entscheiden möchte und nicht so, wie die medizinischen Strukturen und vielleicht auch Gesetzgeber das gerne möchten? Was steckt hinter dieser herablassenden und abwertenden Haltung gegenüber „alten Eltern“? Ist es allein die misogyne Bewertung von Frauen, deren Wert allein in ihrer Jugend und Potenz liegt? Oder ist es nicht auch der Ableismus in Bezug auf alte Menschen generell, der Ageismus? Weil man annimmt, es sei einfach etwas anderes, wenn man als 40-Jährige*r auf der Spielplatzbank rumhockt, zwischen Kita und Arbeit hin- und herhetzt, sich kümmert, sich sorgt, sich bemüht, sich anstrengt. Was genau aber dieses „andere“ sein soll, das kann man nur ableistisch begründen, will man nicht anerkennen, dass einander zu helfen und füreinander da zu sein für Menschen jeden Alters existenziell wichtig ist. Und darum geht es am Ende doch. Die Verweigerung von Miteinander füreinander.

Ich wäre mit 21 vielleicht auch gut mit einem Kind klargekommen. Ich bin aber mit mir nicht klargekommen. Keins der Kinder, die ich mit Anfang, Mitte, Ende 20 bekommen hätte, hätte viel von mir gehabt. Ich hatte keine Freund*innen, keine Familie, keine Arbeit. Nur ständige Existenzangst und Druck vom Jobcenter, nur abgewechselt von irgendwelchen Leuten im Netz, die ihre sozialen Normen als globale Wahrheiten predigen.
Die Leute, die sich heute hinstellen und behaupten, mit 40, spätestens 45, hätte ich mein Recht auf Erfüllung meines Kinderwunsches umfassend verloren, hätten mir in meinen 20ern das Leben auch so mitgestalten können, dass ich früher dran hätte sein können. Haben sie aber nicht. Sie haben es mir damals zur Hölle gemacht und sie machen es bis heute. Damit muss ich nicht einverstanden sein. Ich muss ihnen nicht zustimmen, nur weil Strukturen und die ableistische heteronormative cis Volksnorm das von mir so möchten.

So unterschreibe ich diesen Zettel also unfrei und nicht selbstbestimmt. Lebe ab sofort mit noch mehr Angst um meinen Mann und sein vorzeitiges Ableben, denn auch dann werden die konservierten Zellen vernichtet. Zum Schutz aller Parteien, unabhängig von den Unfreiheiten, die sich daraus ergeben.
Im Hinblick auf die Kosten, die uns im Zuge des gesamten Verfahrens entstehen, erlebe ich das als Fortführung der gleichen Ungerechtigkeit, mit der ich schon vorher konfrontiert war.
Es hört einfach nicht auf. Egal, wie alt ich bin.

#IchLeideNicht | … oder doch? | #DisabilityPrideMonth

[Disa] Obwohl ich die Idee hinter dem Hashtag #IchLeideNicht gut finde und verstehe, spüre ich Widerstände. Ja, die Intention des Hashtags und auch die des #DisabilityPrideMonth unterstütze ich sehr. Es geht bei Pridemonths – und bei diesem hier erst recht – darum, die gesellschaftliche, die menschliche Vielfalt sichtbar zu machen und zu feiern, dass jedes Menschenleben genau gleich kostbar, wertvoll und lebenswert ist. Auch ein Menschenleben, das mit kapitalistischem Leistungsdenken nicht fassbar ist. Eins, das für manche Menschen, die sich als ‚ohne Behinderung‘ betrachten und den Wert von Menschenleben an deren Behinderungsgrad messen, weniger wert ist als ihr eigenes Leben.

Betroffene mit sichtbaren und unsichtbaren Behinderungen schreiben in ihren Posts zum Hashtag, dass sie weniger an ihrer eigentlichen Behinderungen als am gesellschaftlich anerkannten Ableismus, Behindertenbashing und den Barrieren im Außen und in den Köpfen anderer leiden. Gut finde ich das, wichtig und unterstützenswert. Und gern würde ich auch etwas schreiben, denn ja, ich bin auch behindert. Unsichtbarer als andere, aber doch, ja, meine Störungen gelten rechtlich und offiziell als Behinderungen. Und das deckt sich auch mit meinem Gefühl.

ADHS, Autismusspektrum und AuDHS haben in den letzten Jahren sehr an Akzeptanz gewonnen, gehören gar zu den cosy und trendy Störungen, die sich manche Influencer oder Alltagsmenschen gern umhängen, um sich ein wenig interessanter und anders darzustellen und um sich von der Masse abzuheben. (Hättest du wirklich ADHS oder Autismus, wärst du vielleicht nicht mehr ganz so lullifullihappy, denke ich oft, wenn ich solche Sprüche lese, etwa von unserer geilen Suuuperkraft … etc. Ich dagegen finde neurodivergent zu sein, weitestgehend anstrengend.)

Theoretisch also ist das So-Sein und das So-Sein-Dürfen in der Gesellschaft angekommen, jedenfalls wenn ich den öffentlich-rechtlichen Sendern, die ich mir regelmäßig anschaue, glauben darf. Dokus in allen Sendern klären auf, meist sogar ziemlich gut recherchiert und auch mit dem Ziel, mit Ableismus aufzuräumen. Und ja, wirklich, ich freue mich sehr, dass über Neurodivergenz gesprochen wird. Aaaaber.

Die Botschaft lautet leider irgendwie so: »Weil du so sein darfst, wie du bist, hast du keinen Grund (und impliziert: kein Recht!) mehr, zu leiden oder zu jammern! Jetzt ist doch alles gut!« Wenn es so einfach wäre.

Gerade Menschen mit unsichtbaren Behinderungen, die weniger an Dingen, die rollstuhlfahrende Menschen alltäglich stressen, leiden, sind in einer schwierigen Situation. Sie leiden zwar nicht am fehlenden Lift, da sie vielleicht eh lieber zu Fuß gehen, aber sie leiden dennoch. Und zwar unabhängig vom Draußen, sprich unabhängig von anderen Menschen. Vielleicht ist das Leid vom Prinzip her mit einem chronischen Schmerz zu vergleichen, nur dass es kein physischer Schmerz ist, sondern eine umfassende dauerhafte, inwendige Reibung am Alltagsleben.

Aber du darfst dich nun wirklich nicht beklagen, denn du kannst ja die Wohnung und das Haus einfach so verlassen, ohne auf eine Rampe angewiesen zu sein!

Kann ich das wirklich? Einfach so – das Haus verlassen? Nein, kann ich nicht. Schon gar nicht einfach so. ‚Einfach so‘ gibts bei mir fast nie. Bevor ich das Haus verlasse, muss ich mich darauf vorbereiten. Nicht nur physisch, also mit Rucksack packen und so. Ich brauche jedes Mal ein mentales Anlauf-Nehmen, bevor ich hinausgehen kann. Ich überlege vorher, was alles passieren und wem ich draußen begegnen könnte, denn jede Nicht-Vorsehbarkeit ist ein Stressor für mich. Alles, was ich mir vorher überlegt habe, ist im Bedarfsfall besser handzuhaben. Und wenn es nicht eintrifft, umso besser.

Du darfst dich dennoch nicht beklagen, denn du kannst ja einfach, wenn der Kühlschrank leer ist, einkaufen gehen.

Kann ich das – einfach so? Nochmals Nein: ‚Einfach so‘ einkaufen ist nicht. Einkaufen ist (fast) immer ein krasser Stressor für mich. Nach dem Herausgehen und Verlassen der Wohnung (siehe oben), weiß ich bereits bei der Einkaufsvorbereitung, dass viel Reiz auf mich zukommen wird. Der Lärm und das Gewusel anderer Menschen, all die Dinge in den Regalen, meine Liste, ohne die ich aufgeschmissen bin. Selbst mit Liste und Routine ist es Stress. Vor dem Einkauf (schon auf dem Weg in den Laden) müssen darum die Kopfhörer in die Ohren. Im Laden zwar ohne Ton, aber ich brauche diese Dinger als Lärmfilter. Im Laden sehe ich nicht das Ganze, ich sehe ein Haufen Details, die ich gedanklich zusammenschieben muss, Schritt für Schritt, Regal für Regal muss ich abscannen und suchen, was ich brauche. Von außen siehst du mir das nicht an, das passiert in mir drin. Nebst Einkaufswagenbefüllung ist darum immer auch das Reizmanagment eine Hauptaufgabe meines Einkauferlebnisses.

Aber trotzdem, echt jetzt, es gibt wirklich keinen Grund, zu jammern, schließlich kannst du ja als Autis*in und/oder mit ADHS einfach zur Arbeit gehen und dein eigenes Geld verdienen – andere Behinderte können das nicht!

Kann ich das? Einfach so? Ach, wäre das schön, aber wieder Nein! Auch Arbeiten ist nicht ‚einfach so‘ einfach. Ich hatte kaum eine Stelle, die halbwegs autismusfreundlich war. Viel zu viel Kommunikation, viel zu viele Reize, viel zu viele Menschen, viel zu viel Nicht-Vorhersehbares. Mir kam meine ADHS zugute, dank der ich Vieles kompensieren konnte und kann, aber eben: nicht alles und: der Preis war und ist hoch. Zusammenbrüche immer wieder, denn Kompensation ist purer Stress, macht müde, macht langfristig depressiv.

Nun ja, okay, aber dennoch, immerhin kannst du wenigstens am öffentlichen Leben teilhaben. Restaurants und Kinos, Hotels und öffentlicher Verkehr, alles da, du kannst … na ja, du könntest jedenfalls, wenn du wolltest … (du willst vielleicht nur nicht fest genug!)

Das mit der Teilhabe ist vermutlich für Menschen im Spektrum die größte Hürde. Denn ja, Fakt ist, dass der öffentliche Raum selten behindertengerecht ist, weder für sicht- noch für unsichtbare Behinderungen.

Mir ist der öffentliche Raum viel zu reizintensiv, Gerüche, Geräusche, Visuelles in großer Menge überfordern mich. Ab und zu kann ich raus in die Welt, aber immer, dauernd? Nein, das geht nicht. Und ja, da gibt es eine große gesamtgesellschaftliche Baustelle. Der öffentliche Raum sollte für alle Menschen ein sicherer Raum sein – egal ob behindert oder nicht-behindert. Davon sind wir weit entfernt.

Ich gehöre übrigens nicht zu jenen Menschen, die den Begriff Behinderung ausklammern, schönreden oder gar abschaffen wollen. Auch bin ich nicht der Meinung, dass es ausschließlich die Gesellschaft ist, die einen Menschen behindert und dass ein Mensch eigentlich gar nicht wirklich behindert ist. Natürlich lässt sich das nur von Mensch zu Mensch sagen,  aber ich denke trotzdem, dass Behinderungen – besonders auch die unsichtbarern – Fakten sind. Fakten, die Unterstützung möglich machen.

Das widerspricht meiner Meinung nach nicht der Tatsache, dass alle Hirne unterschiedlich sind, dass es die Diversität zu feiern gilt, dass im Spektrum zu sein eine von vielen Arten des Seins ist, keine Abweichung, nichts Pathologisches ist, sondern eine Spielart. Doch das Spektrum ist breit. Manche Diversitäten schaffen Lebensumstände, die sehr aufwändig sind, Pflege erfordern, der Unterstützung bedürfen.

Oder hochfunktionale, oft spätdiagnostizierte Autist*innen, die ein langes Leben mit Überanpassung, mit Masking, ihr Leben mehr schlecht als recht gelebt haben, brechen eines Tages zusammen. (Ich bin damit nicht allein.) Fakt ist: Leben im Spektrum ist anstrengend.

Behinderungen zu negieren und kleinzureden, erzeugt in dieser leider nicht idealen Gesellschaft noch mehr Leid und macht den Kampf (Schwer-)Betroffener noch unwürdiger, weil die zuständigen Stellen sich aus der Verantwortung stehlen können. Renten werden nicht gesprochen oder gestrichen … Nicht schön.

Jede Behinderung ist anders. Ja, nicht jede behinderte Person leidet im gleichen Maß. Doch was ist Leid denn überhaupt? Definiere. Persönliches und generelles, kollektives!

Geht nicht? Ja, es ist schwierig. Und inwieweit lässt sich Leid überhaupt verallgemeinern? Darf ich das? Ist nicht letztlich jedes Leid verknüpft mit der eigenen Wahrnehmung, mit der eigenen Geschichte, mit der eigenen Sozialisierung, dem eigenen Schmerzempfinden, der Einordnung von und der Haltung gegenüber Leid?

Manche körperliche Dinge machen mich – als Beispiel – weit weniger leiden als manche mentalen. Und umgekehrt. Meine Leidwahrnehmung ist nicht immer logisch und vorhersehbar.

Nächste Frage: Leide ich an meiner Neurodivergenz? Und würde ich an ihr auch dann leiden, wenn ich die mich gesellschaftlich einschränkenen Barrieren (Reizüberflutung z. B.) und die Intoleranz nicht-autistischer Menschen ausklammere?

Ja. Tatsächlich leide ich nach meiner persönlichen Leid-Definition an AuDHS. Nicht immer. Und vielleicht nicht so, wie es sich Menschen, die sagen, dass jemand an etwas leidet, es sich vorstellen. Aber zum Beispiel leide ich oft daran, dass ich so schnell erschöpft bin. Und dass ich deswegen zeitlich nur limitiert am Leben meiner lieben Menschen teilhaben kann. Auch daran, dass ich meine Routinen so sehr brauche, leide ich oft, denn es macht mein Leben schwerfällig. Auch dass mich Abweichungen stressen und ich nicht einfach so aus dem Nichts das Thema wechseln kann, wenn ich am Schreibtisch sitze, finde ich leidvoll. Oder dass mich Anrufe, selbst von Liebsten, aus der Ruhe bringen, dass ich immer etwas mit meinen Händen machen muss, um eine Art Ruhe zu haben. Etc. Ja, bei manchen Sachen ist natürlich der Kontext zur gesellschaftlichen Norm in meinem Leid mitdrin, klar, ich bin ja keine Insel. Aber ich finde es auch einfach für mich selbst oft extrem schwer auszuhalten, dass ich nicht sehr belastbar bin.

Und dann gibt es aber auch die andere Seite, die mein So-Sein tatsächlich feiert. Ich bin kein Trauerkloss, trotz all der Einschränkungen und dem Leid. Ich freue mich, wenn ich viel Zeit allein verbringen kann, in meine Spezialinteressen einzutauchen, forschen, recherchieren, schreiben, mich austauschen … Ich freue mich, wenn ich meine Routinen leben und es mir in meinem Leben ruhig machen kann.

All das – und noch viel mehr – macht mich aus. All das ist Teil meines Alltags und hat meinen Charakter von klein an mitgeprägt. Ich leide und ich leide nicht. Mein persönliches Leid lässt sich mit einer akzeptierenden Haltung besser handhaben. Wie jedes Leid. Doch damit geht der chronische Zustand nicht weg, nur macht es mir den Umganzg mit meinem So-Sein erträglicher. Ich bin, wie ich bin und ich bin unterwegs. Ich übe, ich scheitere und ich übe weiter.

Mehr Wissen darum, warum ich bin, wie ich bin hilft. Diagnotik hilft. Forschung hilft. Aufklärung hilft.

Umwege | #Autismus

[Disa] Als vor etwa zwei Monaten meine sehr junge Diagnostikerin, eine sehr junge Assistenzpsychologin, meinte, ich könne, weil ich so oft umgezogen sei und so viele Wechsel in meiner beruflichen Laufbahn hatte, unmöglich Autistin sein, war ich tief erschüttert. Bei ihrem Fazit blieb unberücksichtigt, dass ich außerdem ein diagnostiziertes und medikamentös behandeltes ADHS habe und dass die ganzen Tests und Interviews etwas anderes sagten. Die immer bekannter werdende Kombination von ADHS und Autismus war bei ihr schlicht noch nicht angekommen.

Wären ihre Ausschluss-Kriterien und ihre Begründungen halbwegs sinnvoll und nachvollziehbar gewesen wären, hätte ich es akzeptieren können und sagen, »ja, oke, dann ist es halt doch etwas anderes, das mein So-Sein irgendwie plausibel erklärt«. So aber? Ihr Fazit war mir zu fadenscheinig und ließ mich zuerst verwirrt zurück, dann schlug es in Verzweiflung um. Es war weniger die Diagnose an sich, eher das Ganze, das Drum-und-Dran. Nein, das war kein neues Gefühl. Nicht gesehen zu werden, wie ich bin, kenne ich von klein an. Nicht verstanden zu werden, ist und war mein roter Faden.

Nicht zuletzt darum habe ich ja ein Leben lang versucht – via Masking – normtypisch zu wirken und normtypisch zu sprechen. Vermutlich sogar so erfolgreich, dass die meisten, die ich mit meiner Autismusvermutung konfrontiere, zuerst einmal sagen: »Wie, du, autistisch?« Die Vorurteile sind groß. Masking ist ein krasses Werkzeug.

Wenn aber auch Fachpersonen aus dem psychiatrischen und psychologischen Umfeld nicht dahinter sehen können, finde ich es einfach nur schlimm. Und dann folgen auch die Selbstbeschuldigungen bald: ich werfe mir selbst mein perfektes Masking vor. Schon zweimal hatte ich vor ein paar Jahren ähnlich krasse Situationen erlebt, in denen ich von Fachpersonen ganz und gar nicht das Gefühl bekommen hatte, als die, die ich bin, wahrgenommen und gesehen zu werden.

Und nun also wieder, ein drittes Mal. Kein Wunder, dass der Triggermotor angesprungen war. Weitere Selbstzweifel tauchten auf: »Was ist, wenn die Diagnostikerin recht hat und die von mir als autistisch gelesenen Verhaltensweisen eben doch eher Zwänge und soziale Ängste sind.«

Was für ein Glück, dass wir heute selbst recherchieren können und nicht immer alles, was uns Fachmenschen als wahr verkaufen wollen, glauben müssen. Also recherchierte ich und begriff, dass es sehr wohl sehr klare Unterschiede gibt: »Zwangsstörung vs. autistische Rituale | […] Zwang kann nicht unterdrückt werden und beeinträchtigt die Lebensqualität der Patienten. Sie leiden darunter.
Das ist bei autismusspezifischen Zwangssymptomen nicht der Fall. Bei Menschen mit Autismus stellen stereotype Verhaltensweisen und Rituale eine angenehme, regulierende und lustbetonte Möglichkeit der Entlastung dar.« (Quelle) Auch im Buch »Die Welt autistischer Frauen und Mädchen« von Manon Mannherz/Ismene Ditrich/Christa Koentges fand ich Hinweise darauf, dass mein So-Sein wohl doch eher autistisch ist. Diese Erkenntnisse halfen mir sehr, wieder auf die Beine zu kommen,  und sie bekräftigten meinen Entschluss, eine Zweitmeinung einzuholen. Parallel dazu meldete ich mich wieder bei meiner früheren Psychiaterin/Therapeutin, auf dass sie mir in diesem Chaos beim Durchblickfinden helfen möge. Ich bekam sechs Wochen später einen ersten Termin. Das war gestern.

Dank einer Freundin erfuhr ich von einer anderen Diagnostikstelle in einer anderen Stadt und bekam dort recht kurzfristig wegen einer Terminabsage einen Termin für ein Erstgespräch, dessen Sinn darin bestanden hatte, abzuklären, ob eine Zweitmeinung/Zweitdiagnostik sinnvoll sei. Was für ein Glücksfall!

In diesem Gespräch, zu welchem ich ziemlich viel Material inklusive Diagnostikbericht dabei hatte, kam zum einen heraus, dass die von mir besuchte Diagnostikstelle sowohl strukturell als auch inhaltlich kurz gesagt unseriös und nicht mehr zeitgemäß gearbeitet hatte. Mein Unbehagen wegen des eher fadenscheinigen Hauptargumentes – viele Umzüge, viele Stellenwechsel – sei sehr berechtigt, sagte die Psychologin, mit der ich sprach. Solche Biografien seien ganz gewiss KEIN Ausschlusskriterium, betonte sie, doch sie könne mir natürlich nicht versprechen, dass ich bei Ihnen eine Autismusdiagnose bekommen werde. Allerdings könne Sie mir eine sehr seriöse Abklärung zusichern. Die sehr erfahrene und langjährig in der Diagnostik tätig gewesene Psychologin, mit der ich sprach, meinte nach dem Querlesen meiner Unterlagen und des Berichts, während wir über meine aktuelle Situation sprachen, dass ich ihrer Intuition gemäß gute Chancen auf eine Autismus-Diagnose hätte. Das sei natürlich nur ihre Intuition. Die von der Diagnostik womöglich bestätigt werde.

Gestern, bei meiner früher langjährigen Therapeutin, die mich nun schon neun Jahre kennt, kam ich sowohl auf die schwierige Diagnostik an sich als auch auf die Aussagen im Bericht, meine Verhaltensweisen seien nicht autistisch sondern zwanghaft, zu sprechen. Zur Illustration hatte ich alte Unterlagen mitgebracht, unter anderem den sieben Jahre alten Zwänge-Test. Die Fragen darauf, jedenfalls ungefähr zwei Drittel davon, sind nach meinem heutigen Wissensstand typisch autistische Fragen, die sich um repetitives und ritualisiertes Verhalten drehen. Ich habe jene, die ich damals und noch heute mit Ja angekreuzt habe und hätte, für mich auf den Prüfstand gestellt – und erkannt: Die meisten Dinge tue ich, weil es mich beruhigt. Es macht mich ruhig, wenn die Dinge an ihrem Platz liegen. Auch wenn die Abläufe meines Morgens immer gleich sind, macht mich das ruhig und ich fühle mich sicher. Ich habe nicht Angst davor, dass die Welt untergeht, wenn ich es nicht so und so machen kann, aber mein Grundsicherheitsgefühl und meine Ruhe werden maßgeblich gestört.

Nachdem wir so eine Weile über meine Anliegen geredet haben, erzählt mir meine Therapeutin, dass sie inzwischen eine einwöchige Weiterbildung zum Thema Autismusspektrum besucht habe. Mit dem neuen Wissen von dort und meinen Gedanken über mich und mein So-Sein könne sie sich tatsächlich gut vorstellen, dass ich autistisch bin. Und es helfe ihr dabei, eine andere Klientin, die vermutlich auch Autistin sei, besser zu verstehen. Wir hatten da gerade über Missverständnisse in der Kommunikation gesprochen. Dass wertfrei gemeinte Aussagen von Autist*innen – als Beispiel – von Nicht-Autist*innen als Kritik verstanden werden können, obwohl sie nur aus Neugier- und Interesse-Gründen gestellt worden sind. Auch über Masking sprechen wir eine ganze Weile und sie versteht, dass ich nie je bewusst maskiert habe, um etwas vorzutäuschen oder um mir etwas zu erschleichen, sondern weil das eine Überlebensstrategie war und ist.

Natürlich kenne sie sich zu wenig aus, sagt sie, und auch das spricht für sie. Sie ist keine, die so tut als wüsste sie alles. Jedenfalls wird sie mich erneut durch diese aktuelle Phase begleiten, in welcher ich in eine bessere Akzeptanz meines So-Seins zu finden hoffe; mich von Masking distanzierend, mehr mich selbst werdend.

Und für die zweite Diagnostik, irgendwann im Winter/Frühling 25/26 wird sie meiner zukünftigen Diagnostik-Person für die Fremdanamnese zur Verfügung stehen. Wie gut es tut, dass es solche Menschen gibt, die mitdenken, mitfühlen und in Zusammenhängen handeln.

Leben machen – Teil 18, die Vorstellung der Anderen

[Janne]
Pastelltöne, Zeitlupe, sanfte Klänge, fast Stille. Wärme. Körperkontakt. Babygeruch. Flusige Haare. Weiche Haut. Ein ewiger Moment ohne jeden Kontakt zur Realität.
Das ist meine Idee von der Vorstellung, die andere Menschen über meine Kinderwünschigkeit haben. Nur das Baby und ich. Ein Baby, das nie weint, nie schreit, nie Probleme hat. Ich die*r immer wach und verliebt ist. Schwangerschaft und Geburt mit Schmetterlingen und zarten Blümchen, alles rein und weich und leicht. Meine monatliche Blutung als böses Erwachen aus einem schönen Traum. Die knallharte Realität, mit der sich alle anderen Leute befassen müssen, während ich mich ins Baby-Traumland verkrieche und zunehmend weniger damit befasst bin, was (in Wahrheit) doch viel wichtiger wäre.

Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass diese Vorstellung eine misogyne und ableistische Erzählung ist. Dass sie nicht nur einen Wunsch abwerten, sondern auch noch zur Gefahr machen.
Und das überwiegend, weil sie selbst keinen Kinderwunsch haben oder keine Person sind, die schwanger werden kann (oder war) und dies zur Bedingung für empathisches Zuhören oder Beistehen machen. Mir erscheint das ineffizient und im Hinblick auf die gegenseitige Abhängigkeit, wenn es ums Leben machen geht, unlogisch.

Und es macht mich wütend.
Die meisten Personen, mit denen ich über meinen oder ihren Kinderwunsch spreche, sprechen mit mir nie über Realitätsfernes. Wir sitzen nie bei Kaffee und Kuchen und steigern uns in Ideen darüber rein, wie es ist, ein Kind zu haben. Wie wir spielen und schmusen, was wir für feine Breichen kochen und wie süß die Sachen sein werden, in die wir es kleiden. Nie.
Wir telefonieren nach schwierigen Terminen und geben einander den Mut zu Untersuchungen, die uns weh tun werden. Wir hören einander beim Weinen zu, wenn wir bluten, den Eisprung verpasst haben oder erfahren, dass wir die nächste spezielle Untersuchung selbst bezahlen müssen und wieder einen Tag an Überweisungszettel, Rezept- und/oder Medikamentenbeschaffung verloren haben.
Wir gleichen unsere Informationen über Dinge ab, von denen wir hier und da und dort hören und lesen. Wir prüfen Medikamentenpreise und Onlineapotheken. Checken die Komponenten unserer Nahrungsergänzung. Vergleichen die verschiedenen Heimtests auf Tauglichkeit und Preis-Leistungsverhältnis. Wir untersuchen unsere Körper und lernen sie bis zur Zellebene runter kennen.
Wir arbeiten.

Ich habe meinen Kinderwunsch nun seit über 17 Jahren.
Ich habe eine Liste aller Kliniken, die ihre Kaiserschnittraten angeben und gemäß der Richtlinie arbeiten. Eine Liste aller Hebammen und Geburtshäuser im Umkreis von 50 Kilometern. Mein Geburtsplan ist ein Ordner, den ich erst dann irgendjemandem gebe, wenn ich sämtliche Einwilligungserklärungen in Besitz habe und entsprechend unterzeichnet oder nicht unterzeichnet habe. Das letzte Blatt in diesem Ordner ist eine Liste mit Anwält*innen, die sich auf medizinische Fehlbehandlung spezialisiert haben.
Ich weiß, welche Art Geburtsvorbereitung und Nachbereitung es gibt und welche ich möchte. Ich weiß, welche Arzttermine und Untersuchungen wann in der Schwangerschaft bei wem wie nötig sind. Ich habe eine Timeline dafür erstellt, die ich ab meinem ersten positiven Test nur noch abarbeiten muss.
Meine Fähigkeit, mich intensiv und lange auf etwas fokussieren zu können, hat dabei enorm geholfen. „Komplett irre in den Kinderwunsch reingesteigert“ habe ich mich damit nicht. Im Gegenteil. Diese aktive Auseinandersetzung hat meinen Blick auf Schwangerschaft und Geburt, aber auch auf die Wahrscheinlichkeit, währenddessen angemessen und gut begleitet, unterstützt und versorgt zu werden, extrem realistisch werden lassen.
Gleiches ist im letzten halben Jahr mit meinem Blick auf die medizinische Kinderwunschbehandlung passiert.

Alte weiße cis Männer wie mein Ehemann wehren meine Conclusio dennoch ab. Ich sage, dass ich mich damit befasst habe, er denkt, ich hätte 10 Minuten gegoogelt. Ich überlasse ihm wie von ihm gewünscht die Aufgabe, Termine zu beschaffen — er weiß weder wozu der Termin relevant ist, noch macht er den Termin sofort aus. Die Abkürzungen IUI, IVF, ICSI — er weiß nicht, was das ist und noch weniger, mit welchen Risiken, Belastungen für mich und Kosten und Zeitbedarfen für uns beide das jeweils verbunden ist. Die Broschüre dazu liegt seit Monaten auf dem Tisch, an dem er jeden Tag mehrfach vorbeigeht.
Dass ich darüber wütend (und enttäuscht bin) erklärt er sich damit, dass ich halt gerne mit einem Baby spielen möchte und meinen Wunsch nicht sofort erfüllt bekomme.
Als wäre ich das Baby.
Das nicht rafft, dass man nicht immer alles sofort haben kann.

Meine inzwischen schwangere kinderwünschige Freundin sagte neulich, sie wisse auch nicht warum, aber irgendwie bräuchten Männer offenbar immer einen Tritt in den Arsch.
Grundsätzlich mag ich nicht so über cis Männer denken. Überhaupt will ich niemals jemanden treten müssen, damit er sich nicht ignorant verhält und denkt, das ginge klar. Aber: Ich kenne kein Elter, das geboren hat, keine Mutter, die ihren cis Mann nicht (immer wieder) richtig zusammenscheißen musste, damit er endlich aufhört, so zu tun, als würde es nur ums Kuscheln und Heititei gehen. Damit Verantwortung vollständig und nicht nur anteilig übernommen wird. Damit die tägliche mentale Leistung, die jeweder Organisation, Aufklärung, Vor- und Nachbereitung von praktisch allem, was mit dem Kind(erwunsch) zu tun hat, als Arbeit gesehen wird, die eingebettet in die gemeinsame Realität geleistet wird.

Meine intensive Vorbereitung wird mich in Teilen davor bewahren, unsicher zu sein und auf meinen Mann angewiesen zu sein.
Ich kann ihm meine Bücher geben, die Studien zeigen, die Webseiten zugänglich machen, ihn einladen, ihm alles zu erklären.
Die Grenze ist jedoch er selbst. Die Bereitschaft, seine Idee über meinen Kinderwunsch zu berichtigen, die muss von ihm kommen.
Er muss begreifen, dass er sich nicht für „seine Ruhe haben“ oder dafür, dass er „wirklich ein guter Kerl ist“, damit befassen muss, sondern dafür, dass er tatsächlich mit mir in Kontakt, Verbundenheit, Miteinander ist.

Das akzeptieren zu müssen, macht mich wütend und erfüllt mich starkem Ohnmachtsgefühl. Aber diese Notwendigkeit ist nicht neu für mich.
Über mein autistisches Leben und Sein gibt es exakt die gleiche Grenze. Ich bin inzwischen gut darin trainiert auszuhalten, dass andere Menschen teilweise extrem schlimm ableistische Vorstellungen über mein Leben und mich haben. Manchmal selbst dann, wenn ich direkt vor ihnen sitze und überhaupt nichts davon bestätige. Auch diese Menschen haben einfach die Möglichkeit, sich eben nicht zu befassen. Ihre oftmals sogar unbewusste Vorstellung gefällt ihnen einfach besser. Passt manchen von ihnen auch einfach besser ins allgemeine Selbst- und Weltbild.
Und sie wissen nicht, was sie sich selbst, aber auch mir dadurch verwehren. Unsere Gesellschaft ist okay damit, dass autistische Menschen „in ihrer eigenen Welt leben“.

In Bezug auf meinen Mann und mich ist das anders.
Über Ehe, Familie, Liebesbeziehungen gibt es bereits andere Vorstellungen. Verbindung und Miteinander sind darin zentrale Bausteine.
Und darauf vertraue ich letztlich.
Dass wir diese Vorstellung voneinander beide gleich haben und auch erfüllen wollen.

Die Autismusdiagnostikanspannung

[Disa] Zwischen der zweiten und der dritten, finalen Autismus-Diagnostik-Sitzung drehe ich zwischendurch immer wieder ziemlich am Rad. Darum habe ich heute die drei Fragebögen hervorgeholt, die ich im Februar, vor der ersten Sitzung, nach dem Ausfüllen eingescannt hatte. Ich wollte wissen, was mich im Abschlussgespräch erwartet und was die Bögen aussagen. Weshalb ich im Internet nach Auswertungen suchte. Und fand. Alle drei Auswertungen waren so eindeutig, dass ich jetzt ein bisschen zuversichtlicher bin, am nächsten Donnerstag eine klare Autismusspektrum-Diagnose zu bekommen.

Nun ja, so rein von den Tests her ist es eindeutig, doch dazu kommen noch die Fremdbeurteilungen (ein Bruder, eine Freundin, die mich seid der Jugendzeit kennt und meine Psychiaterin), die Anamnese und die Auswertung des Interviews, das in der zweiten Sitzung stattgefunden hat.

Ich weiß, dass ich nicht autistisch wirke und habe darum Angst, dass die junge Diagnostikerin das Masking nicht erkennt. Obwohl ich natürlich versucht habe, nicht zu maskieren. Doch ich befürchte, dass mein Nicht-Maskieren unglaubwürdig sein könnte. Und vielleicht war ich zu empathisch, zu gesprächig, zu gut über Autismusspektrum informiert, so dass sie denkt, ich will mir womöglich eine Diagnose erschleichen. (Impostor lässt grüßen.)

Bloß: Wozu sollte ich das tun? Denn, nein, ich bin keine Diagnosenjägerin, ich will nur endlich Antworten. Ich will verstehen. Mich. Und ja, ich will mich einer Gruppe Menschen, die ähnlich ticken wie ich, offiziell zugehörig fühlen. Nach all den Jahrzehnten Aliendaseins will ich endlich wissen, warum ich bin, wie ich bin. Diese vielen Fragen! Frühere Diagnosen werden womöglich obsolet, wenn ich es endlich schriftlich, schwarz auf weiß, sehen kann, dass ich im Spektrum bin. Es würde so viel erklären … Kindheitsdinge. Jugenddinge. Familiendinge, Berufsdinge. Freundschaftsdinge, Partnerschaftsdinge.

Endlich ganz offiziell wissen, mich outen und sagen können, dass ich nicht mehr vorhabe, zu maskieren, mich anzupassen, mich zu verbiegen. Ja, ich will mich noch mehr vom Masking verabschieden, so umfassend wie möglich.

Trotz der Angst, nach dem jahrzehntelangen Masking mich selbst hinter den Masken verloren zu haben. Denn es ging ja immer irgendwie. Bis es eben nicht mehr ging und der Krug auf dem Weg zum Brunnen einmal zu viel gebrochen ist.

Ich gebe zu, dass ich großen Respekt vor dem habe, was nun kommen wird. Wo will ich mich outen? Kann ich das Masking wirklich ganz ablegen oder gibt es Situationen, wo es besser ist, wenn ich es beibehalte?

Kann ich vielleicht sogar daran kaputt gehen, wenn ich alle Masken nach und nach ausziehe? Was ist Maske, was bin ich? Kleben die Masken so an mir, dass ich zerreiße, wenn ich sie ausziehe? Finde ich mich darunter – oder nichts mehr? Welches Ich ist das wahre Ich? Wie bin ich wirklich oder wie wäre ich, wenn ich immer ganz mich selbst hätte sein können – von Anfang an? Doch wer ist schon ganz und gar unmaskiert sich selbst? Alle Menschen maskieren zuweilen, doch für Menschen im Spektrum ist es existentieller als für Menschen mit neurotypischen, neuronormalen Hirnen.

Wir Menschen im Spektrum maskieren, um nicht noch mehr aufzufallen. Wir packen Teile unserer Persönlichkeit weg, wir klappen die Flügel ein, wir bücken und ducken uns weg, um möglichst wenig anzuecken, um möglichst oft richtig verstanden zu werden. In aller Regel ist Masking keine bewusste Entscheidung, schon gar nicht eine absichtliche Irreführung und es ist auch kein Rollenspiel. Aber es ist eine sehr anstrengende Einschränkung unserer Persönlichkeit, eine immens anstrengende Anpassung an die Mehrheit, die sehr oft in Erschöpfungsdepressionen – sogenannten Autistischen Burnouts – münden. Krug und Brunnen, da wären wir wieder.

Artgerecht leben als Mensch im Spektrum

[Disa] Neulich haben wir im Fediversum darüber diskutiert, wie sich Menschen aus dem Spektrum eine ideale, artgerechte Umgebung so vorstellen.

Das hier kam dabei heraus:

Was wir selbst für uns tun können:
– uns selbst und unsere Bedürfnisse ernstnehmen
– Selbstfürsorge jeglicher Art praktizieren
– Alleinzeit-Bedarf einplanen und kommunizieren
– Regenerationsbedarf kommunizieren
– uns andern zumuten dürfen ohne in Frage gestellt zu werden, damit andere uns ernstnehmen können
– Rituale und Methoden finden, die uns helfen, uns zu entspannen (Natur, Sonne, angenehme Temperaturen, Tiere, Wandern, Stille, Kreatives etc.)
– eigene Strategien und Hilfsmittel entdecken (Hörbuch, Gewichtsdecke, etc.)
– Stimming zulassen statt unterdrücken
Fazit: Uns selbst respektiverend unsere Aktivitäts- und Ruhebedürfnisse so handhaben, wie es für uns gut ist, ohne uns zu vergleichen

Was andere Menschen für uns tun können:
– Die Bedürfnisse neurodivergenter Menschen ernstnehmen, akzeptieren und respektieren
– schriftliche Kontaktpflege der mündlichen und telefonischen ebenbürtig betrachten
– klar kommunizieren, direkt sprechen, statt um den heißen Brei herum und missverständliche Redewendungen vermeiden
– nicht ungefragt andere Menschen anfassen
Fazit: Ernstnehmen, respektieren und unterstützen der unterschiedlichen Arten zu sein

Was die Öffentlichkeit/Gesellschaft und Arbeitsgebende für uns tun können:
– Die Bedürfnisse neurodivergenter Menschen ernstnehmen, akzeptieren und respektieren
– mehr Selbstbestimmung ermöglichen, Terminplanung ebenso wie generelle Arbeitszeit
– schriftlichen Kontakt dem mündlichen und telefonischen als ebenbürtig erklären und ermöglichen
– Homeoffice und kleine Räume statt Großraumbüros
– Rückzugsorte, sowohl zeitliche als auch räumliche, ermöglichen und z. B. Powernap unterstützen
– Regenerationszeit fest einplanen
– Zuverlässigkeit gewährleisten, zu Aussagen und Abmachungen konsequent stehen
– Veränderungen rechtzeitig ankündigen
– klar kommunizieren, direkt sprechen, statt um den heißen Brei herum und missverständliche Redewendungen vermeiden
– sichere, reizarme, ruhige Umgebungen anbieten, weniger Dauerbeschallung im öffentlichen Raum
– zuverlässige Intrastrukturen wie ÖPNV und ÖV
– Genug Hilfeangebote und Therapiemöglichkeiten
– Genug Diagnostik-Angebote
– Mut zu Freundlichkeit statt ständiges Konkurrenzdenken
Fazit: Ernstnehmen, respektieren und unterstützen der unterschiedlichen Arten zu sein

Einkaufszentren, Läden etc.
– Stille Zeiten anbieten
– Berieselung und Lärm generell minimieren oder ganz weglassen
– Einkaufserlebnis durch immer gleiche Ordnung verbessern (entschleunigen, beruhigen)
– breite Gänge anbieten
Fazit: Ernstnehmen, respektieren und unterstützen der unterschiedlichen Arten zu sein