Artgerecht leben als Mensch im Spektrum

Neulich haben wir im Fediversum darüber diskutiert, wie sich Menschen aus dem Spektrum eine ideale, artgerechte Umgebung so vorstellen.

Das hier kam dabei heraus:

Was wir selbst für uns tun können:
– uns selbst und unsere Bedürfnisse ernstnehmen
– Selbstfürsorge jeglicher Art praktizieren
– Alleinzeit-Bedarf einplanen und kommunizieren
– Regenerationsbedarf kommunizieren
– uns andern zumuten dürfen ohne in Frage gestellt zu werden, damit andere uns ernstnehmen können
– Rituale und Methoden finden, die uns helfen, uns zu entspannen (Natur, Sonne, angenehme Temperaturen, Tiere, Wandern, Stille, Kreatives etc.)
– eigene Strategien und Hilfsmittel entdecken (Hörbuch, Gewichtsdecke, etc.)
– Stimming zulassen statt unterdrücken
Fazit: Uns selbst respektiverend unsere Aktivitäts- und Ruhebedürfnisse so handhaben, wie es für uns gut ist, ohne uns zu vergleichen

Was andere Menschen für uns tun können:
– Die Bedürfnisse neurodivergenter Menschen ernstnehmen, akzeptieren und respektieren
– schriftliche Kontaktpflege der mündlichen und telefonischen ebenbürtig betrachten
– klar kommunizieren, direkt sprechen, statt um den heißen Brei herum und missverständliche Redewendungen vermeiden
– nicht ungefragt andere Menschen anfassen
Fazit: Ernstnehmen, respektieren und unterstützen der unterschiedlichen Arten zu sein

Was die Öffentlichkeit/Gesellschaft und Arbeitsgebende für uns tun können:
– Die Bedürfnisse neurodivergenter Menschen ernstnehmen, akzeptieren und respektieren
– mehr Selbstbestimmung ermöglichen, Terminplanung ebenso wie generelle Arbeitszeit
– schriftlichen Kontakt dem mündlichen und telefonischen als ebenbürtig erklären und ermöglichen
– Homeoffice und kleine Räume statt Großraumbüros
– Rückzugsorte, sowohl zeitliche als auch räumliche, ermöglichen und z. B. Powernap unterstützen
– Regenerationszeit fest einplanen
– Zuverlässigkeit gewährleisten, zu Aussagen und Abmachungen konsequent stehen
– Veränderungen rechtzeitig ankündigen
– klar kommunizieren, direkt sprechen, statt um den heißen Brei herum und missverständliche Redewendungen vermeiden
– sichere, reizarme, ruhige Umgebungen anbieten, weniger Dauerbeschallung im öffentlichen Raum
– zuverlässige Intrastrukturen wie ÖPNV und ÖV
– Genug Hilfeangebote und Therapiemöglichkeiten
– Genug Diagnostik-Angebote
– Mut zu Freundlichkeit statt ständiges Konkurrenzdenken
Fazit: Ernstnehmen, respektieren und unterstützen der unterschiedlichen Arten zu sein

Einkaufszentren, Läden etc.
– Stille Zeiten anbieten
– Berieselung und Lärm generell minimieren oder ganz weglassen
– Einkaufserlebnis durch immer gleiche Ordnung verbessern (entschleunigen, beruhigen)
– breite Gänge anbieten
Fazit: Ernstnehmen, respektieren und unterstützen der unterschiedlichen Arten zu sein

Leben machen – Teil 14, einen Schritt zurück, den zweiten nach vorn

[Janne]
Die Abteilung ist ruhig, es ist der vorletzte Arbeitstag für die Mitarbeiter*innen vor dem Urlaub. Für meinen Mann und mich perfekt. Wir brauchen keine Maske tragen, ich keinen Gehörschutz.
Wir sitzen im kleinen Wartezimmer, als ich unruhig werde.
Obwohl ich mich gut vorbereitet habe, bekomme ich nun doch Angst davor, dass mir das Gespräch entgleitet. Dass ich vergesse, was gesagt und geplant wurde. Dass ich in meinem Kopf keine Reihenfolge formen kann, in der danach Dinge passieren sollen. Dass ich wie beim Erstgespräch in der früheren Praxis einer Untersuchung zustimme, obwohl ich insgeheim nicht möchte.

Auch heute machen mich solche Momente noch sehr einsam. Obwohl mein Mann nun wirklich kein unsensibler Klotz ist und sich immer bemüht, mir zu zeigen, dass er für mich mit aufpasst und mitdenkt.
Aber autistisch ist er nicht.
Für ihn geht es ums Zuhören und Aufpassen, für mich geht es ums Verstehen und Begreifen. Darum, dass ich von Fragen überrumpelt und uneindeutiger Gesprächsführung verwirrt werde. Darum, dass wir uns in der Gynäkologie befinden und damit im Bereich empfindlicher Körpergrenzen.

Worin wir vereint sind, ist die Annahme, dass es kein angenehmes Gespräch wird.
Immerhin steht da doch ein bisschen Versagen im Raum. Wir kriegen nicht hin, was so viele einfach hinkriegen. Und wie so viele behinderte Menschen beantworten wir das in unserem geheimen, intimsten Inneren damit, dass wir einfach nicht gut genug sind. Nicht mal richtig ficken können wir.
Wir nehmen einfach an, dass andere Menschen das denken. Oder schließen das aus der allgemeinen Ansprache, die üblicherweise so ist, als würden behinderte Menschen keinen Sex oder überhaupt Interesse daran haben.
Und direkt daneben wissen wir, dass nicht-behinderte Menschen uns so ansprechen, weil sie genau das wollen. Sie wollen nicht, dass wir Sex haben, denn mit dem Sex kommen in der Regel auch die Kinder und wir Erwachsenen sind ja bereits eine Belast – äh – Herausforderung.

Und weil wir das wissen, sind wir nicht offen mit unseren Behinderungen. Sagen nicht, dass wir beide einen GdB von 70 haben, solange das nicht wirklich nötig ist.
Dass es nötig sein wird, wissen wir von Anfang an. Doch wann wir das sagen, liegt bei uns und dieses eine Crip-Privileg nutzen wir bis zum bitteren Ende.

Das Ende unserer Wartezeit begann mit dem Eintreten der Ärztin, die uns freundlich lächelnd und schwungvoll begrüßte. Kurze graue Haare, Krankenhauskleidung in hellblau. Prof. Dr. med. Nachname auf dem Namensschild an der Brust.
Wir hatten ein außerordentlich tolles Erstgespräch.
Sie machte Zeichnungen, um Zusammenhänge zu erklären. Zeigte uns Zahlen und Studienergebnisse. Beantwortete unsere Fragen, bevor wir sie stellten und fragte uns nach Dingen, die zuvor nicht abgefragt wurden.

So erfuhren wir, dass die frühere Praxis noch nicht einmal mit der Ursachenforschung fertig war, bevor sie uns in Richtung IUI (IntaUterine Insemination) gelenkt hat. Eine Behandlungsmethode, die allgemein eine eher geringe Erfolgschance bietet, aber unkompliziert vorgenommen werden kann und (in dieser Praxis) „nur“ etwa 350 € pro Versuch kostet.
Ein Spermiogramm allein reicht nicht für eine ordentliche Beurteilung.
Eine Blutabnahme von vor 6 Monaten ist auch nicht aussagekräftig.
Wir gehen zurück auf 0 und fangen nochmal neu an.

Mein nächster Zyklus wird mit Blutabnahmen und einer Ultraschalluntersuchung einhergehen. Das Ejakulat meines Mannes wird in einer Langzeitkultur untersucht.
Das kann ich auf dem Zettel ablesen, den wir mitbekommen haben.
Dort steht nicht nur drauf, was kommt, sondern auch wo ich wann anrufen und was ich dort sagen muss. Es wird nur das passieren. Um andere Dinge müssen wir uns vorerst keine Gedanken oder Sorgen machen.
Ich muss nicht einmal in die Klinik kommen für die Blutabnahmen. Wenn es zu anstrengend oder einfach nicht möglich ist zu kommen, kann ich das Blut in der Hausarztpraxis abnehmen lassen und mit der Post zusenden. Da die Klinik über eine Stunde Fahrzeit von uns weg liegt, kommt mir das sehr entgegen. Am Tag meiner Ultraschalluntersuchung wird mein Mann dann auch seine Probe abgeben.

Die Effizienz und der Pragmatismus des Ganzen machen mich glücklich.
Ich habe das Gefühl, dass wir zwar back to the basics gehen – gleichzeitig aber auch einen zweiten Schritt nach vorn. Sehr kontrolliert, transparent, noch weit entfernt von Kosten- und Entscheidungsdruck.

Und das alles, während ich aktuell noch ein bisschen hoffe, dass es diesen Monat vielleicht auch schon von allein geklappt hat.
Heiligabend kann ich testen.
Das wär ja was.

#AuDHS = #ADHS + #Autismusspektrum | Nachdenken über Schnittmengen und Gegensätze

[Disa] Als Kind bekam ich von meiner Tante M. ein Taschentuch für Zwillingsgeborene. Auch sie war Zwilling, ebenso meine Mutter und einer meiner Brüder, dem unsere Tante ebenfalls so ein Taschentuch schenkte. Weil ich Tante M. und ihre ansonsten pädagogisch wertvollen Geschenke mochte – die Matrjoschka und das Dalarna-Pferdchen habe ich sogar ins Erwachsenenalter gerettet –, zweifelte ich nicht an der Botschaft auf dem Taschentuch, leichtgläubig wie ich war. Also wuchs ich, dank Taschentuch, im Glauben auf, meine Zwiegespaltenheit in allen Dingen, die ich schon als Kind sehr bewusst wahrnahm, sei astrologisch vorherbestimmt. Der Text auf dem Taschentuch war da sehr eindeutig.

Heute weiß ich es besser. Astrologie ist Quatsch und meine Buntheit hat mit meinem So-Sein zu tun. Während der ADHS-Diagnostik erwähnte meine gute Dr. ADHS, dass manche meiner Testergebnisse auf Autismus hinweisen könnten. Sie kenne sich allerdings nicht gut genug aus, um das beurteilen zu können.

Noch habe ich keine Autismusdiagnose, die Warteschlangen zur Diagnostik sind lang. Ich hoffe, dass ich in einigen Monaten mehr weiß. Inzwischen habe ich mich selbst schlau gemacht und weiß daher, dass die Kombi Autismus/ADHS so selten gar nicht ist, ich nenne sie hier kurz AuDHS.

Seit einem Jahr nehme ich ein Medikament, das mein ADHS-Hirn unterstützt. Seither fühle ich die autistischen Symptome deutlicher. Ich empfinde sie quasi als freigestellt … Vorher haben sich die beiden Wesensarten gegenseitig überlagert und sorgten so für eine ziemlich anstrengende eingeschränkte Lebensqualität. Hott und Hü. Mit und dank Medikament erkenne ich die Prozesse in mir deutlicher, kann vieles besser handhaben und die Lebensqualität ist generell deutlich gestiegen.

Auf der folgendem Grafik fasse ich meine persönlichen Symptome zusammen. In der Mitte die Schnittmenge, in den zwei äußeren Spalten meine Symptome, die entweder der einen oder der anderen Diagnose zugehörig sind.

Meine Zwiegespaltenheit, siehe oben, hat also – so erkenne ich heute – mit den gegensätzlichen Kräften in mir zu tun. Ich habe die für mich gegensätzlichsten Kräfte farbig markiert. Neurodivergenz ist zwar bunt, aber oft ganz schön anstrengend.

Ich wünsche mir, das ich diese ganze Mélange weiter entspannen kann, noch mehr Druck herausnehmen. Noch weiß ich zwar nicht wie, aber ich übe weiter …

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Bildbeschreibung/Alternativtext unter der Grafik:
(Draufklick für groß)

Textgrafik, Text unter der Grafik lesbar

Die Grafik zeigt zwei Kreise. Der linke Kreis ist mit Autismusspektrum übertitelt, der rechte mit ADHS. Die Kreise haben eine Schnittmenge.

Der linke Kreis hat folgenden Inhalt:

  • Hoher Ruhebedarf,
    generell tiefes Stresslevel
  • Gern im Rückzug (Schneckenhaus/Kokon) | Regeneration am besten allein oder nur mit Partner | Natur hilft bei der Regeneration
  • Bemerken/Wahrnehmen kleiner Details, die andere nicht sehen
  • Hoher Bedarf an Struktur, Regeln, Routinen & Planung, Vorhersehbarkeit, Wiederholung, | Veränderung von Abläufen ist sehr stressig | Vorbereitung und klare Abmachungen sind wichtig
  • Berührung/Anfassen mancher Dinge wird als sehr unangenehm empfunden | (unangekündigtes) Berührtwerden ist unangenehm
  • Augenkontakt ist kein natürliches Bedürfnis
  • Oftmaliges Nichtverstehen von Ironie u/o sozialen Codes

Der rechte Kreis hat folgenden Inhalt:

  • (Innere) Hyperaktivität & Impulsivität
  • Grenzenlosigkeit/überbordende Grenzen
  • Hoher Stimulations- & Inspirationsbedarf
  • Exekutive Dysfunktion & Chaostendenz bei Umsetzung von Plänen & im Haushalt/Ordnung
  • Unterstimulation erzeugt Unkonzentriertheit und fördert Ablenkbarkeit und Fehlerbereitschaft
  • Zeitblindheit (auf einmal ist viel Zeit vergangen)
  • Motivierbarkeit bei uninteressanten Aufgaben sehr schwierig
  • Gleichzeitige Wahrnehmung von Ereignissen, was Priorisieren schwierig macht

Die Schnittmenge hat folgenden Inhalt:

  • Hyperfokus
  • Reizempfindlichkeit (Licht, Geräusche/Lärm, Geruch/Gestank, Berührungen)
  • Reduzierte Energiereserven
  • (Synästhesie & MirrorTouch)
  • Dauerhafte anstrengende Anpassungsleistung (Masking)
  • Ablehnungsangst/-empfindlichkeit
  • Soziale Ängste/Beziehungsfindung/-pflege
  • Stimming