Teil 6: Mein Umgang mit Ressourcen, physisch und mental
[Disa] Diesmal bin ich mit Zug und Bus zur Therapie gefahren, weil das Auto gewartet wird. Eigentlich wäre es ökologischer, doch leider ist mein Energievorrat nach der dreiviertelstündigen Reise ziemlich aufgebraucht. Das Unterwegssein unter Menschen, der Lärm der Bahnhöfe und auf der Straße, als ich auf den Bus warte, zeigt mir deutlich, wie es aktuell um meine Energie steht. (Na ja, nicht nur jetzt stressen mich Bahnhöfe, Straßen und Menschen, aber doch deutlich mehr als auch schon.)
Nachdem ich Dr. ADHS kurz erzähle, wie es mir die letzten Wochen ergangen ist, leite ich zu meinem aktuellen Thema über: meine schon seit einigen Wochen anhaltende Dauererschöpfung. Keine Müdigkeit, die durch Ausschlafen, überhaupt durch Schlaf, aufgelöst werden könnte, sondern eine, die macht, dass ich wenig, noch weniger, erledigt bekomme. Ob es einen Zusammenhang zu meiner aktuell sehr gegenwärtigen Motivationslosigkeit mit Depressionsnähe gibt, weiß ich nicht. Es ist, als würde das D-MPH, das ich seit einem Jahr nehme, nicht mehr richtig wirken. Ich erwähne das Mitarbeiterinnengespräch mit meinen Chefinnen, die bevorstehenden Fahrzeugprüfung und den Zahnnotfall, um ein paar Baustellen aufzuzeigen. Und wie mich das alles total erschöpft.
Dr. ADHS fragt, was genau ich von ihr brauche und erhoffe. »Na ja«, druckse ich herum, »dass Sie wieder so eine hilfreiche Lösung aus dem Hut zaubern wie letztes Mal … Hilfreiche Tipps oder Strategien.«
Dr. ADHS schaut eine Weile auf den Bildschirm ihres Laptops, scrollt – so vermute ich – durch meine Krankengeschichte und sagt, dass demnächst meine Jahreskontrolle (Blut, EKG etc.) anstehe. Energielecks können, sagt sie, unterschiedliche Ursachen haben. Als erstes müssen wir feststellen, wo meine Energie versickert, um mir wieder Energie zuführen zu können. Damit ich wieder zu mehr Lebensqualität kommen kann.
Sie zählt auf, was unseren Energievorrat beeinflusst: Ernährung, Verdauung/Resorption, Stressfaktoren, Infektionen. Mein Ferritin-Wert sei ja vor einem Jahr sehr im Keller gewesen, sagt sie mit Blick auf den Laptop.
»Ja«, sage ich, »das ist bei mir fast immer so. Darum habe ich nach der Jahreskontrolle im Februar eine Eiseninfusion bekommen. Danach ist nochmals ein Labor gemacht worden.«
Dr. ADHS erzählt, die neuere Forschung gehe von einem Zusammenhang zwischen erhöhtem Eisenbedarf und dem ADHS-Hirn aus. Dass ADHS-Hirne Eisendepots anders bewerten, einsetzen und einen höheren Bedarf haben. *Shameonme* So richtig habe ich das alles nicht verstanden, meine Konzentration ist aktuell nicht die Beste. Jedenfalls seien wohl etwa die Hälfte aller ADHSler*innen davon betroffen. (Ich lasse das jetzt mal so stehen, da ich keine weiteren Fakten oder Quellen dazu habe.)
Schließlich kommen wir vom Eisen zu Vitamin D, das bei mir auch immer eher im Mangelbereich ist – und erfahrungsgemäß bei mir sehr direkt mit Stimmung und Motivation korrespondiert. (Sie empfiehlt im Winterhalbjahr täglich bis zu 5000 i.E., was etwa doppelt so viel ist, wie ich bisher jeweils genommen habe. Gerade nehme ich aber noch kein Vitamin D, als wir darüber sprechen. Ich vergaß zu fragen, ob das bei ADHS-Betroffenen anders sei als bei neurotypischen Menschen). Beides werde ich bei der Jahreskontrolle, die bald ansteht, mit meiner Hausärztin anschauen.
Omega 3-Fettsäuren seien ebenfalls sehr wichtig für den Energiehaushalt, ergänzt meine Ärztin, und natürlich Magnesium, das ich bereits regelmäßig in Kombination mit Calcium nehme, das es mir gegen die MPH-spezifischen Verspannungen hilft.
Dr. ADHS ist zuversichtlich, dass meine Energie wieder zurückkehrt. Eisenmangel lasse die ADHS-Symptome wieder aufleben und deutlicher in den Vordergrund treten, ergänzt sie die vorherigen Infos. Also genau das, was ich aktuell bei mir beobachte. Ich bin wieder gereizter, reizempfindlicher – fast so als nähme ich die Medikamente nicht. Was natürlich auch mit den ganzen Stressfaktoren zusammenhänge, sagt sie, denn die Medikamente und meine Reaktion darauf sind ja nicht immer gleich, tagesformabhängig und bei weitem nicht die einzigen Faktoren, die meine Lebensqualität beeinflussen.
Fakt ist, dass ich langzeiterschöpft bin. Trotz der Medikamente.
Dass ich wieder viel lärm- und reizempfindlicher bin, inbesondere bei der Arbeit, ist ein Gefühl. Dieses aktuelle Gefühl an sich kann ich zwar nicht ändern, ich kann jedoch überlegen, wie ich damit umgehen kann. Ich kann auch die andern Menschen nicht ändern, nicht leise stellen wie ein Radio, aber ich kann meine Haltung zu den Stressoren sozusagen bewusst und strategisch ändern. (Es lohne sich nur, in den Krieg zu ziehen, wenn Aussicht auf Erfolg bestehe. Andernfalls sei es strategisch klüger, die Energie dafür nicht zu verschwenden.)
Wir sprechen über den Sinn von Anpassung und ich merke, dass mich das Thema wie immer triggert.
Nur dank Anpassung habe die Menschheit überlebt, Survival of the fittest, sagt Dr. ADHS ein wenig provokativ. Es ist nicht das erste Mal, dass wir darüber reden. Wir philosophieren gern. Ich erzähle von meinem Trotz, den ich gegenüber dem Begriff Anpassung aufgebaut habe und von meinem Gefühl, immer die gewesen zu sein, die sich angepasst, die nachgegeben habe … und dass ich der Anpassung gegenüber müde, resigniert und zugleich auch wütend geworden sei. Da ich auch immer wieder diese Ohnmacht und Hilflosigkeit, weil ich die Gegebenheiten nicht ändern kann. Und die Sehnsucht danach, dass die Gesellschaft weiter, freundlicher und toleranter wäre.
Wir unterscheiden Gefühle von Fakten. Aufgrund der Fakten gilt es nach Lösungen zu suchen. Eine Erste-Hilfe-Lösung ist bereits aktiv. Ich habe mein kleines Arbeitspensum noch weiter reduziert. Vorerst bis im Februar. Das fühlt sich genau richtig an. So kann ich wieder zu Kräften und zur Ruhe kommen und die leeren Vitamin-und-Nährstoff-Depots wieder auffüllen.
Auf gar keinen Fall soll ich die Erschöpfung kleinreden, sagt Dr. ADHS, ich soll sie ernst nehmen, als Tatsache. Sie ist keine Ausrede dafür, dass ich gerade so wenig schaffe. Ich soll mir die notwendige Ruhe gönnen. Das sei nicht egoistisch, das sei wichtig.
(November 24)
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Fortsetzung folgt