Teil 7: Noch mehr Emotionsregulation
[Disa] Vor der Praxis ist das Parkfeld für zwei Autos von einem einzigen Auto fast ganz zugeparkt. Ich bin froh über mein Microauto, das dahinter knapp Platz findet. Wie mich solche Dinge jedes Mal von Neuem nerven! Ich hasse Rücksichtslosigkeit in jeglicher Form und bin noch immer ein wenig gereizt, als ich die Praxis betrete.
Nach dem üblichen kurzen Austausch erzähle ich, wie es mir so geht; dazu fasse ich den letzten Monat sehr sachlich zusammen und zähle all die stressigen Dinge der letzten Wochen (Auto-Reparatur, Fahrzeugprüfung, COVID, Zahnprobleme, depressive Episode) als sehr erschöpfende und anstrengende Situationen auf. Auch über meine anhaltende Erschöpfung und Müdigkeit, über die wir schon beim letzten Mal ja ausführlich geredet haben.
Dr. ADHS liegen meine aktuellen Laborergebnisse vom Vortag vor. Mein Ferritinwert ist zwar noch nicht besorgniserregend tief, aber in Anbetracht der Tatsache, dass ich im März eine Infusion hatte, ist der Pegel doch recht tief und soll nicht wirklich tiefer fallen. Vielleicht haben wir hier eine Bestätigung für die Eisen-These (dass ADHS-Hirne mehr Eisen brauchen und anders verstoffwechseln), über die wir letztes Mal gesprochen haben. Ich soll jedenfalls ein gut verträgliches Eisenpräparat nehmen, für Infusionen ist mein Wert zu hoch. Vitamin D ist auch eher tief, ich könne gern mehr Tropfen nehmen, bis 5000 i. E. pro Tag, empfiehlt Dr. ADHS.
Ich bin zum Glück nicht mehr akut depressiv, auch die Erschöpfung ist nicht mehr ganz so raumgreifend wie noch vor ein zwei Wochen und ich nehme mich auch nicht mehr ganz so reizbar wahr.
Ob Eisen und Vitamin D hauptursächlich sind für meine Erschöpfung und das Gefühl, dass die Filter meiner ADHS-Mittels nicht mehr greifen, ist nicht ganz klar. Wir betrachten diesmal meine aktuellen Symptome (Erschöpfung, Depression, Motivationslosigkeit) genauer und sind damit wieder beim großen Thema Emotionsregulation und -steuerung.
Auf das Auftreten von Gefühlen haben wir, wie wiederholt festgestellt, keinen direkten Einfluss. Gefühle können wir nicht steuern, wir können jedoch unseren Umgang mit ihnen beeinflussen. Gefühle beruhen auf sehr vielen Einflüssen, unser Dopaminspiegel ist nur einer davon. Weitere Einflüsse sind interne (Hormone etc.) und externe (Erlebnisse etc.). Wir stehen immer in irgendwelchen Kontexten und unter irgendwelchen Einflüssen, alles macht etwas mit uns.
Kurz: Den Kontext können wir beeinflussen, nicht aber, was wir dabei fühlen. Unser Erfahrungswissen hilft bei Gefühls- und Stimmungstiefs: Wir wissen, dass alles Phasen sind, die vorüber gehen.
(Übrigens: Um nicht Augenkontakt halten zu müssen, schreibe ich viel mit. Inzwischen habe ich begriffen, wie oft ich mich zu Augenkontakt zwinge. Andern in die Augen zu schauen ist für mich kein natürliches Bedürfnis, sondern etwas, das ich mir als Kind antrainiert habe.)
Lachen hilft, sagt Dr. ADHS, und zuerst denke ich, sie macht sich ein bisschen über mich lustig. Doch dann erklärt sie, dass wir den Kreislauf Denken, Fühlen und Verhalten durchaus mit unkonventionellen Tricks durchbrechen können. Früher dachte man, es müsse mit Anders-Denken angefangen werden, um auf destruktive Verhaltensmuster und Gefühle einwirken zu können. Heute weiß man, dass auch mit relativ banalen Verhaltensveränderungen angefangen werden kann. Zum Beispiel mit willentlichem Lachen, mit dem Verziehen des Gesichts zu einem Lachen, mit einem So-tun-als-ob-Lachen, das dem Hirn signalisiere, dass wir uns gut fühlen. Auch so kann ein destruktiver Kreislauf durchbrochen werden. Mit einem Bleistift zwischen den Zähnen könne ein Lachen imitiert werden, die Gesichtsmuskeln würden zu einem Lachen verzogen und mit diesem Gesicht sei es schier unmöglich, sich weiter in der depressiven Negativ-Spirale zu bewegen. Na ja … ich bin bei sowas ja immer skeptisch.
Wie wir uns verhalten – will heißen, wie wir auf Gefühle reagieren –, haben wir als ADHS-Betroffene dank Medizin selbst in der Hand. Und ja, ich fühle mich tatsächlich meinen Gefühlen nicht mehr so machtlos ausgeliefert wie früher, mache ich mir einmal mehr bewusst.
Ich entscheide also – idealerweise bewusst –, ob ich auf ein schwieriges Gefühl mittels Abschwächen oder lieber durch Übersteuerung reagieren will.
Als Beispiel nehmen wir meine Motivationslosigkeit. Wie kann ich mich selbst wieder mehr motivieren und mich aus meiner aktuell schweren Unmotiviertheit, die ich dazu auch noch sehr schwierig aushaltbar finde, herausholen?
Abschwächen hieße hier, mir durch eine Art Vorabbelohnung Anlaufenergie zu holen. Konkret: Ich könnte vor der ungeliebten Arbeit etwas tun, das mir Freude bereitet und den Akku auffüllt (Hörbuchhören und dazu malen z. B.). Allerdings bestimme ich vorab eine Zeit und höre auf, hemme den Impuls sozusagen, selbst wenn ich einen Lauf habe, und setze mich schließlich an die ungeliebte Aufgabe.
Übersteuern hieße in diesem Fall die Motivationslosigkeit schlicht zu ignorieren und mich unmittelbar auf die ungeliebte Arbeit zu stürzen. Das setzt voraus, dass ich mich selbst von der Dringlichkeit oder Notwendigkeit der Arbeit zum Beispiel überzeugen kann. Einfach ist das nicht, auch wenn es so klingt. Übersteuern bedeutet quasi ’Augen zu und durch’.
(Dabei passiert etwas im präfrontalen Kortex, eine kognitive Leistung. Wie so oft kapiere ich nicht immer alles, was mir Dr. ADHS erklärt. Oder ich verstehe es nur kurz, beim Zuhören, daheim ist es bereits wieder vergessen.)
Weder das eine noch das andere finde ich einfach, logisch und einfach so zugänglich, außerdem bin ich aktuell Weltmeisterin im Prokrastinieren.
Dennoch ist mir beim Zuhören aufgefallen, dass ich mich im Grunde so ähnlich, also mit einem Mix aus Abschwächen und Übersteuern, aus der Depression herausgeholt habe: Ich hatte mich auf ein Thema gestürzt, Autismus, und mich da so richtig tief reingekniet. Während ich mich tief auf dieses für mich wichtige Thema einließ, blendete ich die ganze depressive Denklast phasenweise komplett aus. Vielleicht ist das nicht gerade das Idealbeispiel, aber irgendwie ahne ich, was mit diesen zwei Möglichkeiten der Emotionsregulation gemeint ist. Es geht letztlich um das möglichst unbeschadete Umschiffen einer schwierigen Situation.
Seit ich MPH nehme, empfinde ich meine ADHS-Symptome weniger vordergründig, erzähle ich gegen Ende der Sitzung, ich nehme seither meine Autismussymptome deutlicher wahr, sie sind sozusagen freigestellt. Bei meinen Recherchen zum Thema habe ich ständig Aha-Erlebnisse. (Dr. ADHS nimmt diese Gedanken wertfrei zur Kenntnis. Ich kann mir vorstellen, dass sie die Forschung um AuDHS, also die Kombi zwischen beiden Seinsarten, auch verfolgt.)
Ich erfahre abschließend, dass Lichttherapie am Morgen am wirksamsten sei, weshalb ich meine Lichttherapielampe inzwischen ins Schlafzimmer geholt habe. Ich sage, dass ich keine Antidepressiva nehmen will. Im Vergleich zu den früheren Depressionen, war die aktuelle mittelschwer und zeitlich eher recht kurz (ca. 2-3 Wochen). Das ist überschaubar und erträglich. (Bei allen AD hatte ich üble Nebenwirkungen und wenig Benefit.)
Als ich die Praxis verlasse, ist das rücksichtslose Auto verschwunden. Immer wieder schön, wenn sich Probleme von allein lösen.
(Dezember 2024)
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Fortsetzung folgt