Was bei #ADHS helfen kann | Medikamente nehmen Teil 4

[Disa] Wie ich mich jedes Mal nerve, wenn ihm TV Mist über ADHS verbreitet wird! In einer Serie, die ich gestern geguckt habe, wurde eine ADHS-Betroffene wegen ihrer Ritalin-Sucht behandelt. Es wird gezeigt, wie sie am Abend heimlich und verstohlen eine Tablette nimmt. Sie müsse diese Sucht unbedingt aufgeben!, sagte die Ärztin später zu ihr. Sie müsse lernen, ohne diese Droge zu leben.

What a f*ck! Sorry, aber bei so viel Mist werde ich leicht ungehalten.

Dass Methylphenidate (MPH) wie Ritalin und Co. von Nicht-ADHS-Betroffenen als Droge missbraucht werden, ja, oke, verstehe ich. Aber dass ADHS-Betroffene freiwillig überdosieren? Ne, glaub ich jetzt eher nicht. Bei uns ist die Wirkung ja genau umgekehrt. Durch das Endlich-Genug-Dopamin werden wir konzentriert und fokussiert, endlich weniger hibbelig, während ein Zuviel – wie ich später noch erzählen werde – ähnlich unangenehm ist wie ein Zuwenig.

Leider wissen viele Drehbuchschreiber*innen offensichtlich nicht, dass MPH keinen Pegel erzeugt, wie es die meisten(?) Psychopharmaka vermutlich tun. MPH dagegen ist in maximal zehn Stunden wieder raus aus dem Körper. Ich habe im Laufe der Zeit bei mir beobachtet, wie lange das MPH bei mir wirkt und habe eine etwa 6-8 stündige Wirkzeit erkannt. Auch geht es mir defintiv besser, wenn ich das Mittel relativ bald nach dem Aufstehen nehme.

Im folgenden Text fasse ich meine Erkenntnisse aus meinen letzten beiden Sitzungen, in denen es um das Eindosieren und Finden meiner persönlichen Dosis ging, zusammen. Ich möchte mit dem Teilen meiner Erfahrungen so gern die ganzen Vorurteile über ADHS, die im Umlauf sind, aufheben.

Natürlich ist so ein Mittel – wie letztlich jedes Medikament – ein Eingriff in mein System. Manche Menschen reagieren mit starken Nebenwirkungen. Bei mir traten als Nebenwirkungen wiederholtes Verspannungskopfweh, Mundtrockenheit und Pickel auf. Alle drei können von Methylphenidat (MPH) ausgelöst werden.

Für das Kopfweh empfiehlt mir Dr. ADHS, hochwertiges und hochdosiertes Magnesium einzunehmen. (Was, wie ich im Rückblick nach zehn Monaten sagen kann, bestens funktioniert. Das Kopfweh hat sich wieder normalisiert, heißt, ich habe es ähnlich oft oder selten wie vor der Medikation.) Fakt ist, dass MPH dem Körper mehr Spannung beschert. Dagegen hilft Magnesium meistens gut. Doch wer langfristig hochdosiertes Magnesium einnimmt, sollte unbedingt auch auf genügend Calcium achten, da sonst die Knochensubstanz angegriffen werden kann. Der Abend sei für Magnesium die beste Einnahmezeit, weil es ja zur Entspannung und Entkrampfung beitrage, sagt meine Ärztin. Was ich zwar nachvollziehen kann, aber die Verspannungen, die das ADHS-Mittel macht, spüre ich ja vor allem tagsüber. Ich werde es wohl so halten, dass ich am Morgen und am Abend etwas nehme.

Einmal jährlich soll gecheckt werden, wie mein Körper mit dem MPH klarkommt, Blutbild, Blutdruck etc.. Gut zu wissen!

Ich habe Glück, dass ich mein Mittel so gut vertrage. Die Pickel haben sich – so kann ich glücklicherweise im Rückblick sagen – wieder verkrümmelt, nachdem ich die richtige Dosis gefunden hatte. Mit der Mundtrockenheit habe ich zu leben gelernt, ich trinke öfter.

Kurz gesagt: Die positiven Effekte überwiegen bei mir definitiv. Ich habe deutlich mehr Lebensqualität und weniger Leidensdruck. Meine Wahrnehmung der Unterschiede – Leben mit und ohne das Medikament – ist immer facettenreicher geworden. Ich habe mehr Bewusstsein für mich und meine Grenzen. War ich vorher grenzenlos, spüre ich mich inzwischen immer besser. Auch bin ich nicht mehr die, die immer alles überblickt, mitbekommt, wachsen hört, sieht und wahrnimmt. Jetzt bin ich auch mal die, die nicht mehr weiß, wo die Schlüssel liegen. Ich kann nicht mehr alles vorausahnen und überblicken, sondern muss mir jetzt Strategien überlegen, damit ich die Dinge nicht vergesse.

Ich sage meiner Ärztin, dass ich zwar zufrieden bin, nur gern weniger hibbelig wäre. Viel ist besser geworden, aber die Hibbeligkeit mag ich nicht. Müsste die denn nicht endlich weniger werden? Statt früher 15 Kanäle, die mich gleichzeitig bespielen, habe ich inzwischen nur noch etwa 5-10, mir wäre lieber, es wären noch weniger, sage ich.

Wir überlegen, dass ich testweise die Dosis leicht erhöhen könnte, was ich schließlich die nächsten Tage tue, aber bald merke, dass ich die positiven Eigenschaften zwar immer noch wahrnehme, mich jetzt aber irgendwie abgehoben, abgeschnitten, unempathisch, fast zu sehr nur auf mich fokussiert fühle. Und – vor allem – jetzt sogar noch hibbeliger geworden bin.

Also mache ich genau das Gegenteil: ich verringere die Dosis. Die Kapseln lassen sich ja sehr gut öffnen. Ich experimentiere, bis ich nach und nach die richtige Dosis, die Hälfte der Anfangsdosis, finde. Da habe ich nun alle Benefits und endlich ist die Hibbeligkeit weniger geworden. Und die Pickel sind auch Geschichte.

Diese Phase mit der Überdosierung war schlimm – und doch erhellend und somit notwendig, um die Wirkung von MPH zu begreifen. Ich habe mich mir fremd gefühlt und für mich erkannt, dass sowohl zu wenig als auch zu viel Dopamin schwierig sind. Die richtige Dosis findet sich auf einem sehr schmalen Weg. Auch wenn es bei mir schließlich eine relativ kleine Dosis ist, macht sie doch, so im Rückblick, einen gewaltigen Unterschied in der Wahrnehmung meiner Innen- und Außenwelt.

Mit meiner eher kleinen Dosis bin ich übrigens nicht allein, die Wohlfühldosis ist tatsächlich sehr individuell. Und je älter eine*r ist, desto weniger Dopamin-Transporter hat sie*er, also braucht eine*r je älter je weniger Dopamin, um das gewünschte Level zu erreichen.

Es ist ein tolles Gefühl: endlich bestimme ich. Ich kann wählen. Ich muss nicht, aber ich kann. Ich sammle jetzt Erfahrungen und ich darf auch mal danebenhauen. Das darf sein. Ich werde im Laufe der Zeit fühlbar selbstsicherer, weil ich nun selbst bestimmen kann.

Das alles ist nicht nur ein kognitiver Prozess, ein Verstehen im Kopf, es geht vor allem auch darum, das alles zu fühlen. Die langfristigen Verhaltensveränderungen, die ich herbeiführen will, sollen besonders auch auf der Fühlebene passieren.

Eine Beobachtung, die ich erst allmählich mache:
Meine Tagesmüdigkeit ist fast ganz verschwunden. Das hat zwei Gründe: 1.) Die Substanz ist nicht nur ein Dopaminbooster, sondern eben auch ein etwa zehn Stunden wirksamer Wachmacher, was jedoch nicht bedeutet, dass ich zehn Stunden lang einen hohen Dopaminspiegel habe (dieser hält sich, je nach persönlichem Stoffwechsel und gewähltem Medikament, 4-8 Stunden).
2.) Ich bin nun abends, da ohne Nickerchen tagsüber, viel müder, so dass ich, wenn Wachmacher und Dopaminboost wieder aus dem Körper raus sind, entsprechend (meist mit Melatonin) richtig gut schlafen kann. Nicht immer, aber immer öfter.

Inzwischen habe ich deutlich mehr Selbstvertrauen in mich und meine Instinkte, Gefühle und Wahrnehmungen gefunden. Das freut mich sehr.

Ich empfinde mich …

  • innerlich ruhiger
  • weniger (schnell) müde
  • ausdauernder
  • weniger schnell genervt und gereizt
  • positiver/optimischer

Abschließend zeigt mir Dr. ADHS auf einer ihrer Textgrafiken, wo genau was passiert:

  • Das limbische (Belohnungs-)System reagiert auf genug Dopamin mit »innerlich ruhiger«
  • Der Thalamus kann wegen genug Dopamin Reize besser abschirmen und lässt mich mich »weniger (schnell) müde« fühlen.
  • Im Präfrontalen Cortex geschieht durch genug Dopamin, dass ich entscheiden kann und will, »positiver« zu sein.

Während ich mit zu wenig Dopamin vieles automatisch mache, geht es neu darum, die Dinge bewusst zu tun. Das erklärt auch meine neue Vergesslichkeit. Vorher hat sich mein Hirn herumliegende Dinge automatisch gespeichert, weil ich keine Filter hatte und alles unpriorisiert wahrnahm, doch darauf kann ich nun irgendwie nicht mehr zugreifen. Gefühlt ist es manchmal wie eine noch fast leere Festplatte ohne Dateirn oder ein anderes neues Betriebssystem, das ich erst kennenlernen muss …

»Das Hirn ist bis ins hohe Alter beweglich«, sagt Dr. ADHS sinngemäß, »und hocheffizient. Wenn ich davon überzeugt bin, dass ich etwas nicht mehr kann, werden jene Areale »geschlossen« und das Hirn, die Hirntätigkeit, wird dort eingestellt. Aktiviere ich das Hirn aber ständig, indem ich Neues lerne, bleiben alle Bereiche im Hirn aktiv. Use it oder lose it. So arbeitet das Hirn«.

»Sie tun schon viel, Sie haben bereits viel getan«, sagt sie, als ich von meiner Erfahrung mit meiner mir in den Phasen der Überdosierung beinahe abhanden gekommenen Empathie spreche. »Die Empathiefähigkeit gehört zu Ihnen, ist Teil Ihrer Persönlichkeit. Sie ist nicht nur wegen mehr oder weniger Dopamin aktiv, Sie können sie steuern. Neu werden Sie nicht mehr überflutet und daran müssen Sie sich gewöhnen. Jetzt ist das noch neu, aber irgendwann wird das Ihr neues Normal sein.«

Ich habe es jetzt endlich selbst in der Hand und bin nicht mehr den Fühlfluten ausgeliefert.


Teil 1
Teil 2
Teil 3

Ende