[Vierraumwohnung] Gedanken zu Disas Blogbeitrag „spät oder zu spät diagnostiziert“
Als spät diagnostiziert gelten alle, die nicht im Kindesalter ihre Diagnose erhalten. Und bevor ich meine Diagnose erhielt, hatte ich Monate Zeit mich im Internet schlauzulesen. Von 18 bis 85 gab es dort so viele, die eine Diagnose frisch erhalten hatten. Auch wenn es nicht einfach ist und man teils jahrelang warten muss oder, wie ich, zur falschen LWL fährt. Heute weiß ich, dass nicht alle Teststellen auf der Höhe der Zeit sind, Mädchen und Frauen immer noch gerne übersehen werden, weil wir nicht unbedingt öffentlich ausrasten, weil wir eher Richtung Depression oder Borderline geordnet werden, weil wir uns so lange anpassen bis wir umkippen usw. usw.. Damals saß ich fassungslos beim Therapeuten und verstand das Ergebnis „wahrscheinlich habe ich ADHS oder ich will mir Drogen erschleichen“ nicht.
Letztendlich haben wir (mein Therapeut und ich) einen Reha-Antrag bei der DRV gestellt, weil bei Reha-Antritt die Diagnose überprüft wird. Bzw. hat man keine, wird man diagnostiziert. Ich habe der Reha-Ärztin meine Probleme in einem Logorrhoe-Anfall (Sprechdurchfall) vor die Füße gekotzt und sie strahlte mich an, dass sie sich bei mir auch sehr sicher sei, dass ich ADHS habe. Mein Begleitbrief des Therapeuten war fast überflüssig.
Diagnose und Anfangsmedikamentierung hatte ich also in der Reha, 6 Monate nach dem Anfangsverdacht des Therapeuten. Mit 41 bekam ich also diese „Kinderkrankheit“, nachdem man meine Zeugnisse der 1. u. 2. Klasse gelesen hatte. Verträumt, zu langsam, abgelenkt, größere Rede-Anfälle mit Ausschweifungen: alles gab es schon immer und niemand hat es zugeordnet. Ich auch nicht. Für mich war es etwas, das ich unter Charakter oder Persönlichkeit eingeordnet hatte. Zumal meine Eltern, Geschwister, Großeltern, meine Kinder sowie mein Mann und seine Familie ja ähnliche Charakterzüge zeigen.
Spätdiagnostiziert mit 41, dass ist natürlich zu spät für alle Prüfungen von Führerschein über Diplom zu Staatsexamen, aber auch irgendwie genau rechtzeitig, wenn man mit Burnout im Beruf gescheitert ist. Vor allem war es gerade rechtzeitig genug um zu erkennen, dass drei Wiedereingliederungsversuche genug sind, um einen Frühverrentungsantrag einzureichen und einer Überprüfung durch die Amtsärztin nicht zu widersprechen.
Also habe ich einen Schwerbehinderten-Ausweis beantragt, einen Rentenantrag gestellt und einen Antrag auf Auszahlung der Berufsunfähigkeitsrente. Die BU-Rente war am schnellsten und spendierte großzügig; eine echte Koryphäe als Gutachter – dafür bin ich auch ewig dankbar. Denn dieses Gutachten attestierte hieb- und stichfest, was ich bereits ahnte: ich war und bin nicht mehr arbeitsfähig, weil ich mich nicht mehr über mehr als zwei Stunden konzentrieren kann. Die Beauftragte der Amtsärztin, eine zweite Koryphäe, testete neu und stellte ebenfalls fest: ADHS und nicht mehr arbeitsfähig. Die DRV (Deutsche Rentenversicherung) endete mit drei Anträgen auf Verwaltungsfehler (geht schneller als ein Widerspruch) und einer Klageeinreichung bis das Gericht der DRV vorschlug meinem Antrag stattzugeben, da ich eindeutig im Recht sei.
Letztlich bin ich vier Mal getestet worden, das letzte Mal nur wegen der Medikamentenumstellung (reine Geldschneiderei, meine Meinung).
Arbeitsunfähig und spätdiagnostiziert sind nun wahrlich keine Label, mit denen ich in meinem Leben gerechnet hätte, trotzdem kam beides Gottseidank zum richtigen Zeitpunkt, in der richtigen Reihenfolge und mit Menschen, die sich mit ADHS auskannten. Hätte ich nicht diesen Therapeuten ausgesucht, wäre es evtl. bei der Diagnose Burnout und Depressionen geblieben. Hätte ich nicht in dieser Reha-Klinik angerufen, hätte ich nicht erfahren, dass dort die Diagnose schneller geht. Hätte ich nicht bei der DRV nachgefragt, ob ich nicht auch eine Reha machen … usw., usw.. Alles stand und fiel mit der Diagnose ADHS und dem Einsatz von Medikamenten und zugehöriger Therapie. Ohne hätte ich nie durchgehalten.
Meine Diagnose und Medikamentierung kam somit natürlich relativ spät in meinem Leben aber eigentlich „früh genug“ um in die Berufsunfähigkeitsrente, gesetzliche Rente und Mindestpension zu fallen. Das wird gegeneinander verrechnet, aber bedeutet trotzdem, dass das Niveau mindestens 20 % über dem Bürgergeld plus dem Kindergeld entsprechen muss. Es könnte mir also weitaus schlechter gehen, wenn ich noch später diagnostiziert worden wäre oder evtl. mit viel Pech gar nicht.
Spät diagnostiziert bedeutet also bei mir nur, mein Leben wäre mit einer Diagnose als Kind völlig anders verlaufen, aber evtl. nicht besser. Einem Menschen mit ADHS traut man nicht unbedingt ein Abitur und ein Studium zu. Ob ich dann drei Kinder gekriegt hätte? Ein Haus gekauft? Meine Kids in der KiTa angemeldet, obwohl es eigentlich keine Plätze gab? Einen Job als Vertretungslehrerin angenommen hätte? Meinen Beruf gewechselt mit der Verpflichtung eine Staatsprüfung abzulegen? Vieles habe ich spontan – adhs-ig – entschieden und dann stur weiter gemacht, weil mich Widerrede anspornt es „diesen Gegenredner*innen“ zu zeigen (oppositionelles Verhalten in seiner für mich besten Form). Für mich war es also völlig okay, lange nicht zu wissen, dass ich Betroffene einer Neurodiversität bin; und zum Glück kam, die Diagnose als Spätdiagnostizierte früh genug, um nicht als mittellose Bürgergeldempfängerin zu enden.
Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich mindestens 85 werden möchte, damit es ein halbes Leben mit und ein halbes ohne Diagnose geben wird, wenn ich dann sterbe. Fände ich irgendwie fair.
Würde ich jetzt vor ein Auto laufen, würde ich aber auch zufrieden sterben. Das war immer meine Prämisse. Nie so Riesenwünsche haben, die einen dauerhaft unglücklich machen oder zu zu langem Verzicht nötigen.
Also für mich war es nicht zu spät für meine Diagnose und trotzdem gehöre ich zu den Spätdiagnostizierten. Für meine Erfahrung, damit schon 12 Jahre zu leben, gibts noch keinen Begriff. Das sind 12 Jahre Medikamente und Antidepressiva. Seit 8 Jahren Elvanse und Duloxetin. Kann ich wieder ohne leben? Eindeutig Nein. Die Medikamentenpause, die ich wegen der Rückenschmerzen einlegen musste, war der direkte Weg in eine schwere Depression. Mit den Resten kämpfe ich immer noch. Aber es ist ja nicht zu spät zu lernen, dass ich solchen Vorschlägen nicht mehr folgen muss.