Eine meiner größten Herausforderungen ist der zwischenmenschliche Alltag
[Disa] Dieser neurodivergente Leben – bei mir ein Mix aus ADHS und Autismus – finde ich, ganz schön … ähm … spannend-anstrengend-herausfordernd-krass. Nur schon halbwegs passende Adjektive zu finden, überfordert mich. Wie mich überhaupt ganz vieles an meine Grenzen bringt, was in meinem Alltag passiert. Und eigentlich sind es vor allem, wenn ich genau hinschaue, die zwischenmenschlichen Dinge.
Bei mir, die ich alleine wohne, ist zum Beispiel Besuch wirklich sehr schwierig – und ich meine jetzt nicht die üblichen Verdächtigen wie meine Lieblingsfreundinnen oder der Liebste, denn diese Menschen gehören zu meiner Wahlfamilie.
Besonders anstrengend ist für mich Besuch aus der Herkunftsfamilie. Da ist so viel Unausgesprochenes und das, was lautstark ausgesprochen wird, wird auf eine Weise interpretiert, an der viele überholte Vorurteile und Altlasten kleben. Viele Jahrzehnte an Altlasten. Wenn dann die liebe C. sagt, nachdem ich sehr offen über meine Neurodivergenz gesprochen habe: »Du sagst aber dann schon, wenn es dir zu viel wird oder ist!«, ist das zwar lieb gemeint, aber genau das kann ich natürlich genau nicht und obwohl es längst zu viel ist, sage ich später auf Nachfrage nicht ehrlicherweise »ja, es ist mir zu viel«, sondern »nein, geht schon«. Ich will ja keine Spielverderberin sein.
Beim Essen bekomme ich kaum mit, was ich esse. Mit so vielen Außenreizen kann ich mich nicht auf meine eigene unmittelbare Wahrnehmung einlassen.
Es sind sooo viele kleine Einzelheiten, die mich beanspruchen, die mich reizen, die mich reizüberfluten, dass ich nicht hinterherkomme, mit einordnen, verarbeiten, verstehen, also lasse ich geschehen und beteilige mich, so gut es geht an den Gesprächen. Doch genießen geht anders. Für Genuss brauche ich viel innere und äußere Ruhe.
Selbst wenn alles eigentlich schön und gut und herzlich und offen und authentisch ist zwischen manchen Verwandten und mir, ist es ist es mir dennoch immer zu viel und zu anstrengend.
Ist der Besuch endlich weg, ist es für mich wichtig, die Wohnung – und damit mich selbst – wieder in den Alltagsmodus zurückzuverwandeln, Wohnzimmer und Küche aufräumen und dergleichen mehr.
Neulich war ich nach einem Besuch so erschöpft, dass ich nach dem Aufräumen ausgeknockt aufs Sofa fiel und am liebsten alles weggeschlafen hätte. Doch der Lärm in meinem Kopf – »was hat sie gesagt oder hat sie es anders gesagt, was hat er gemeint, hat er es wirklich so gemeint?« – gab keine Ruhe. Also stöpselte ich meine Kopfhörer ein und öffnete mein aktuelles Hörbuch. Hörbücher erlösen mich oft aus der Denkspirale und dämmen sie ein. Tatsächlich bin ich sogar eingeschlafen, wenn auch kurz nur, und konnte mich ein wenig erholen.
Auch Spaziergänge in der Natur, gern mit Hörbuch oder Podcast auf den Ohren, helfen mir oft.
Was genau strengt mich eigentlich so an, wenn ich mit anderen Menschen zusammen bin? Andere Menschen meint hier insbesondere solche, die laut sind, die schnell sind (ja, ich bin auch schnell, ich weiß), die dazu nicht Teil meines persönlich ausgewählten Wahlfamiliengefüges sind und/oder mit denen ich mich nicht regelmäßig austausche, wo also gegenseitiger Nachholerzählbedarf besteht. Auch die Menge macht es aus: Mehr als nur ein Gegenüber ist bereits herausfordernd für mich – wenn es sehr vertraute Menschen sind, geht zwei noch so – aber ab drei wird es schwierig.
Ja, was ist es denn? Kurz gesagt verliere ich, wenn ich mit anderen Menschen zusammen bin, (ja, noch immer, trotz Medikament und Coaching) das Gefühl für mich und die Verbindung zu mir selbst.
Beispiele? Ich merke kaum, dass ich aufs WC muss, bis meine Blase fast platzt. Oder ich fühle und schmecke – wie schon gesagt – nicht, was ich esse, weil die Sinne überreizt sind. Vor allem aber kann ich nicht adäquat denken und reagieren, weil meine Sinne noch mit Verarbeiten all der Eindrücke auf allen Kanälen beschäftigt sind. Die anderen merken das wohl kaum, aber in mir drin ist dann eine wilde Auslegeordnung an Eindrücken. Wie eine, die bei einem Fest mit hundert Gäst*innen an der Garderobe ihre Jacke sucht, suche ich die ganze Zeit nach Fäden, um meine Gedanken zusammenzuhalten.
Ich werde von einer derartigen Kakophonie an Reizen überflutet, die es mir unmöglich macht, zu sortieren und zu priorisieren. Bevor ich mein Medikament (D-MPH) hatte, war es noch einen Tick krasser. Doch insbesondere in Stresssituationen merke ich von meiner im Coaching geübten neuen Fähigkeit zu priorisieren, wenig. Schließlich bin ich immer noch ich mit all dem jahrzehntelang Gelernten.
Zwar bin ich tatsächlich dank Medikamenten und Training heute mehr bei mir, doch trotzdem fühle ich mich fast immer aus meinem Gleichgewicht gebracht, wenn ich mit Menschen außerhalb meiner kleinen Blase interagieren soll. Ich glaube, das ist einer der Hauptunterschiede zwischen Neurotypischen und Neurodivergenten – oder vielleicht auch nur zwischen Nicht-Autist*innen und Autist*innen …
Viele Leute lieben und brauchen den steten Austausch und die Inspiration von außen, dieses Strom, dieses Zusammensein, dieses Hin-und-Her. Ich brauche ihn zwar auch – punktuell –, aber zugleich fürchte ich ihn, weil es eben schwer ist, ihn zu dosieren. Weshalb ich schriftliche Kommunikation so liebe.
Ich wünschte mir oft, dass es mir ebenso leicht fallen könnte, mich diesem Strom ebenso mühelos hingeben zu können, mich ebenfalls einfach so hin und her treiben und vom Gespräch mitnehmen lassen zu können, mich in Konversationen leicht und entspannt zu fühlen wie ein Großteil der Menschheit. Weil es doch das sogenannt Normale ist. Ich tue zuweilen versuchsweise so, als wäre es leicht, als würde ich es können … und manchmal gelingt es mir sogar ein wenig, aber Fakt ist, dass es mich praktisch immer mehr anstrengt als dass es mich mit Kraft erfüllt. Also nein, wirklich kein Gleichgewicht. Es geht mehr Energie raus als reinkommt.
Darum bin ich gern ganz – und/oder zu zweit mit Lieblingsmenschen – allein. Wenn ich die Wohnung in Richtung andere Menschen verlasse, ziehe ich die antrainierten Scheuklappen an – egal ob Arbeit, Besuche anderer, Supermarkt oder Thermalbad. Wenn ich die Scheuklappen öffne, das tue ich zuweilen ganz bewusst, versuche ich, ganz gezielt hinzuschauen, zu beobachten, zuzuhören statt mich dem Ganzen filterlos auszusetzen. So oder so brauche ich gleich darauf die Ruhe danach.
Für den konkreten Stressabbau während Stresssituationen hilft es mir, zwei Dinge gleichzeitig zu tun – zum Beispiel Malen oder Gamen und Hörbuchhören, oder Stimming und an einem Gespräch teilnehmen. Was für andere nach Überreizung klingen mag, hilft mir, mich zu sammeln. Mein ganzes System kann sich beruhigen, wenn ich auf die ausgewählten Sinne, die ich gerade bewusst bespiele, fokussiert bin.
Im neulich gehörten Podcast wird das übrigens erwähnt. Die in dieser Folge interviewte Frau beschreibt das ganz wunderbar bei Minute 12:45 (ungefähr). Ich bin offensichtlich nicht die Einzige, die das praktiziert.
Übrigens sind nur Schreiben und Lesen für mich quasi »freie Tätigkeiten«, da diese Tätigkeiten bei mir alle Sinne gleichzeitig beanspruchen und mich meistens sehr gut aus der Überreizungsspirale, in der ich mit fast dauerhaft befinde, herausholen.
Sagte ich schon, dass es ganz schön herausfordernd ist, in einer mehrheitlich normierten Welt, neurodivergent zu sein?