Leben machen – Teil 4, in dem es um Geier geht

Leben machen — Teil 4, in dem es um Geier geht

[Janne]
„Coaches.“ Ich betrachtete die Flyer in der Kinderwunschpraxis und dachte: „Natürlich. Wo, wenn nicht hier? Geier.“

Natürlich kreisen sie hier, wo viele Menschen sind. Viele Menschen mit Krankheiten, die noch nicht erkannt, umfänglich erforscht und verstanden sind. In diesem Gesundheitssystem. Viele Menschen mit Pech. Viele mit Hoffnung. Mit dem Geld und Willen zur Investition, für eine Kinderwunschbehandlung. Menschen, die wie ein Fischerkahn auf stürmischer See umherschwanken und sich leicht den einen oder anderen saftigen Extrahappen Geld aus der Hand ziehen lassen. Von Möwen. Also Geiern. Also — naja — Coaches ohne wissenschaftlich fundierten Hintergrund halt.

Ich kanns verstehen, aber wütend macht es mich auch.
Warum ich nicht schwanger werde, ist derzeit nicht klar, deshalb werden mir zahlreiche Optimierungsvorschläge gemacht. Entspannung, Ernährungsumstellung und ein positives Mindset sind dabei die Klassiker. Als würden Äpfel und Gurken, Happy Happy und wobbelige Muskeln schwanger machen. „Zeig mir, wie du dir ein Baby entspannt hast, Sabine, Meditationscoach für Frauen im Kinderwunsch. Mach mal vor, das will ich mit eigenen Augen sehen.“ denke ich ärgerlich und drehe den Flyer um.

Mareike macht was mit Kristallen und Energieflüssen. Petra bietet heilpraktische Begleitung und Energiefeldreinigung nach Fehlgeburten an. Das sind offenbar alles Frauen, stelle ich fest. Der einzige (so von mir gelesene) Mann in dieser Flyerlandschaft ist Genetiker und stellt seine Praxis vor.
Klar weiß ich, dass Robert der Genetiker vermutlich auch deshalb eine gut laufende Praxis hat, weil sich Tina, seine Frau, um die Kinder gekümmert hat und jetzt nur schwerlich mit einer 15 Jahre-Lebenslauflücke wieder im früheren Job anfangen kann. Weshalb Tina jetzt in der Lebensmitte eine Selbstständigkeit anfängt, die mehr oder weniger komplett auf ihren oder fremden Lebensweisheiten beruht. Manche Tinas machen Schmuck für Etsy und manche halt Geistheilung mit Handauflegen und Globuli. Wir leben im Jahr 2024, aber das Patriarchat knallt an manchen Stellen weiter wie 1940. Und funktioniert.

Ich selbst bin gerade ziemlich allein mit meiner Kinderwünschigkeit. Mein Wohnort ist überaltert, das soziale Leben findet im Schützenverein und einer Walkinggruppe statt. Mein Austausch passiert praktisch komplett online. Ich lese viel. Schreibe hier. Höre Podcasts von Frauen, die mich, ob bewusst oder unbewusst verletzen, weil sie vergessen, dass es auch behinderte Menschen mit Kinderwunsch gibt. Die hören, wie wichtig ihnen ein gesundes Kind ist. Die hören, wie es für sie wäre, wäre das Kind, das sie wünschen oder erwarten, behindert.
Eine einfühlsame Begleitung, eine wissende Mutti, die man alles fragen kann, die habe ich nicht. Und da setzen die ganzen Tinas, Petras und Mareikes an. Fürsorgen und Helfen im Privaten wie im Beruflichen, das bieten sie und so viele Menschen nehmen es an. Zum Preis von 365 Euro 90 pro Schwingung und Stunde.
Es ist so traurig und bitter.

Girlbossfeminismus würde sagen: „Hey geil, die Frauen verdienen endlich mal was an dem Service, den sie immerzu unentgeltlich leisten sollten.“ Mein Feminismus sagt: „When you’re rising — lift others up.“ Wenn man Menschen in der Kinderwunschzeit oder nach einem Verlust helfen und guttun möchte, dann sollte das passieren, ohne ihnen das Gefühl zu geben, nicht entspannt genug, nicht gut genug ernährt, nicht fit, nicht heil, nicht happy genug zu sein.

Ich habe mir vorgenommen, einen eigenen Flyer dort auszulegen, wenn ich das nächste Mal da bin. Der Text wird in etwa sein: „Hey, na? Auch unentspannt, gefräßig und mies drauf weils nicht klappt? Lass mal quatschen. 🐦‍🔥“