Leben machen – Teil 24, schwanger bis zum Gegenbeweis

[Janne]
Unser Termin ist um 9. Wir sitzen ab halb 8 in der Kliniklobby, weil mein Mann noch arbeiten muss. Während er im Gespräch ist, ribble ich die angefangene Strickjacke für das Baby meiner Fernfreundin auf, lese die E-Mail einer befreundeten Person, die nach 10 gemeinsamen Jahren und 6 Monaten Streit mit mir den Kontakt beendet, und nehme eine Sprachnachricht auf, um diesen Umstand nicht den Tag bestimmen zu lassen.
Denn heute werde ich schwanger aus der Klinik nach Hause gehen.
Schwanger, bis das Gegenteil bewiesen ist.
Ich bemühe mich um Freude. Versuche, mir meinen Körper als guten Ort für die 6 bis 8 Zellen, die mein Embryo jetzt an seinem dritten Tag ist, vorzustellen. Eine dunkelrote, körperwarme Höhle voller weichem Flausch, so würde ich das Innere meines Uterus aktuell malen.

5 vor 9 schließt mein Mann den Laptop. Ich bin verärgert. Er weiß, dass es mich stresst, wenn wir nicht sicher pünktlich irgendwo sind. Es ist ihm egal. Er macht Witze. Schafft Abstand. Ich lasse ihn. Dieser Tag ist auch ihm nicht gewidmet.
Die laborierende Ärztin zeigt uns unsere Zellen auf dem Monitor ihres Computers.
Von den 5 befruchteten Eizellen hat nur eine die Entwicklung zum gesunden Embryo geschafft. Die anderen sind unregelmäßig gewachsen oder bereits im Sterbeprozess. Wir können keine einfrieren.
Sie darf uns die Bilder nicht schicken. Keinen USB-Stick an ihren Rechner machen. Ich fotografiere den Bildschirm ab und bin traurig, weil ich weiß, dass ich das Pixelmuster des Bildschirms nicht ohne Qualitätsverlust am Motiv retuschieren kann.
Und wieder biege ich aktiv in den Versuch ab, mich zu freuen.

Diesmal habe ich keine sedierenden Medikamente im Körper.
Auch diesmal ist es kein „kurzes Zwacken“, als die Ärztin meine Cervix erweitert, um den Katheter für den Embryonentransfer einzuführen. Es ist ein durchdringender Schmerz, über den ich unwillkürlich zusammenzucke und komplett verkrampfe. Mein Mann drückt meine Hand noch fester. Ich will gar nichts mehr fühlen.
Die Ärztin bezeichnet den Katheter als „Rutsche“ für den Embryo. Als sie ihn überträgt, stelle ich mir vor, wie er in meinem dunkelroten Gebärfloof landet.

Ich freue mich nicht. Ich bin nicht glücklich. Ich bin erleichtert, als ich mich anziehen und nach Hause fahren kann. Da, wo mein Mann sein Ding machen und ich für mich allein herausfinden kann, wie es mir wirklich geht.
Die nächsten Tage sind einsam für mich, obwohl ich mit allen über alles reden kann. Nur nicht über meine  ichfremden Gefühle. Meine autistische Reiz- und Grenzerfahrung. Ich bin jetzt schwanger. Theoretisch. Muss mich verhalten, als wäre ich schwanger, ganz praktisch.

Jeder Aspekt in meinem Leben verändert seine Natur. Verwirrt mich, beunruhigt mich, erfordert ständige Wiedereinordnung. Ich muss mich mit allem vertraut machen, als hätte es mich in dieser Welt noch nie gegeben.

Autor: Janne

Ende 30, weiß, autistisch, kinderwünschig

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